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Playlist – Zum 90. Geburtstag von Carlos Kleiber Dokumente eines genialen Einzelgängers

Gerade aufgrund seiner Zurückhaltung gegenüber dem Tonträgermarkt wirkt Carlos Kleiber auch im Rückblick wie ein Sonderling am Dirigentenpult. Um kaum einen Musiker seiner Generation haben sich zu Lebzeiten derartige Legenden gebildet. Auch Spitzengagen wie eine Million Mark für das Wiener Neujahrskonzert 1989 oder eine Luxuslimousine für einen Auftritt in Ingolstadt 1996 haben ihn nicht zum Umdenken bewegen können: Er wollte einfach nicht regelmäßig dirigieren. BR-KLASSIK präsentiert den genialen Dirigenten in Bild und Ton, vom Filmporträt bis zur kompletten Oper.

Der Dirigent Carlos Kleiber | Bildquelle: DG/Lauterwasser

Bildquelle: DG/Lauterwasser

"I am lost to the world"

Was alle Aufnahmen Kleibers miteinander verbindet, ist eine magische Aura des Klangs. Zartheit und Entfesselung waren wesentliche Elemente seines Musizierstils. Die meisten seiner Aufführungen wirkten wie unter dem Mikroskop entworfen, atmeten aber eine Vehemenz, die andere Dirigenten nie erreichen. Kleiber verstand es jederzeit, neue Energien aus den verstaubten Tongebäuden aufsteigen zu lassen. Am Zelebrieren lag ihm nichts, umso mehr an äußerster Vitalität – und selbst noch im Pianissimo an größter Intensität. Lustvoller, seelenvoller kann man nicht musizieren. Ein faszinierendes Filmporträt von Georg Wübbolt aus dem Jahr 2011: "I am lost to the world".

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Carlos Kleiber - I Am Lost To The World (2010) | Bildquelle: CMajorGlobal (via YouTube)

Carlos Kleiber - I Am Lost To The World (2010)

"Traces to Nowhere"

Über den Aufführungen Kleibers lag suggestive Hochspannung, man lauschte elektrisierendem Orchesterspiel. Es schien im höchsten Grade erarbeitet, als Ergebnis minutiösen Probens. Zugleich schien es aber auch, als wäre solches Musizieren das Resultat eines spontanen, vom Augenblick inspirierten Vorgangs. Geeignet, eine Komposition von neuem aus der Taufe zu heben, sei sie auch hundert oder zweihundert Jahre alt. Ein faszinierendes Filmporträt von Eric Schulz aus dem Jahr 2010: "Traces to Nowhere".

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Traces to Nowhere - The conductor Carlos Kleiber, with English subtitles (HD 1080p) | Bildquelle: EuroArtsChannel (via YouTube)

Traces to Nowhere - The conductor Carlos Kleiber, with English subtitles (HD 1080p)

Beethoven aus Amsterdam

Er verstand viel von Gesang, und manchmal schien es, als würde er auch Instrumentalwerke zum Singen bringen, mit dem Blick auf ihre kantablen Qualitäten. Wenn Kleiber Beethoven dirigierte, schien es, als wären ihm in einer geheimen Stunde Apoll und Dionysos zugleich erschienen – und hätten auf ihr Recht gepocht. Welche Delikatesse in der Tongebung des Orchesters, welche Akkuratesse bei der Umsetzung lebloser Noten! Ein holländischer Elite-Klangkörper kam für Kleiber mit dem Concertgebouw Orkest Amsterdam ins Spiel: dokumentiert in einem auf DVD veröffentlichten Live-Mitschnitt von 1983; auf dem Programm standen Beethovens Vierte und Siebente Symphonie.

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Carlos Kleiber Beethoven Symphonies 4&7 Concertgebouw orchestra Amsterdam | Bildquelle: Samuel van Swol (via YouTube)

Carlos Kleiber Beethoven Symphonies 4&7 Concertgebouw orchestra Amsterdam

Brahms mit dem Bayerischen Staatorchester

Er gehörte zu den Dirigenten, die ein Orchester über sich hinauswachsen lassen konnten, zum Beispiel das Bayerische Staatsorchester. Es gibt unglaublich intensive Live-Mitschnitte von Beethoven-Interpretationen, etwa der Vierten, Sechsten und Siebenten. Hier blüht jede Phrase, vibriert jeder Ton, ohne sich als Einzelheit in den Vordergrund zu drängen. Selbst noch in einem Dokument des 66-jährigen, in Brahms' Symphonie Nr. 4 – von der es alternativ auch eine preisgekrönte Studioproduktion mit den Wiener Philharmonikern gibt, wo man die Lesart eines etwas jüngeren, nämlich 50-jährigen Kleiber studieren kann.

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Brahms: Symphony No.4 / C.Kleiber Bayerische Staatsorchester【Full HD】(1996 Movie Live) | Bildquelle: CLASSICAL MUSIC_192 (via YouTube)

Brahms: Symphony No.4 / C.Kleiber Bayerische Staatsorchester【Full HD】(1996 Movie Live)

Kleibers Lieblingsoper?

Richard Strauss' "Rosenkavalier" komplett! Ein grandioses Sensorium für organische Entwicklungen der Musik war bei Kleiber gerade hier festzustellen. Er liebte das Erfolgsstück, diese Melange aus tiefer Melancholie und überbordender Walzerseligkeit, dirigierte es nicht weniger als 123 Mal – davon 93 Mal am Nationaltheater München. Auch für seinen Abschied von der Opernszene in Wien wählte er den "Rosenkavalier": Das war 1994 die Quintessenz seiner langen Auseinandersetzung mit der im Untertitel so genannten "Komödie für Musik" – mit vokalen Spitzenkräften wie Felicity Lott, Anne Sofie von Otter, Barbara Bonney und Kurt Moll.

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Carlos Kleiber Der Rosenkavalier 1994 part 1 | Bildquelle: Samuel van Swol (via YouTube)

Carlos Kleiber Der Rosenkavalier 1994 part 1

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Carlos Kleiber Der Rosenkavalier 1994 part 2 | Bildquelle: Samuel van Swol (via YouTube)

Carlos Kleiber Der Rosenkavalier 1994 part 2

Ein Evergreen, der in Ekstase mündet

Bizets "Carmen" komplett! Ebenfalls in der Wiener Staatsoper, aber schon 1978: Man glaubt den mitreißenden Evergreen ganz neu und ganz anders zu hören. Welche französische Leichtigkeit im Musizieren erfasst das Orchester! Höchstes Lob verdient die Art, wie Kleiber der Ideenfülle und Fantasie Bizets nachspürt. Dabei verliert er nie den Blick für den formalen Zusammenhang. Und am eifersuchtsgeladenen Ende bricht zwischen Plácido Domingo und Elena Obraztsova eine fiebrige Dramatik aus, die existenziell über die Rampe kommt. Auch und gerade eine dirigentische Partitur-Analyse kann in Ekstase münden.

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Ópera - Carmen Bizet  -1978 - Carlos Kleiber - Vienna Opera - completa | Bildquelle: Gabriel Gonzales (via YouTube)

Ópera - Carmen Bizet -1978 - Carlos Kleiber - Vienna Opera - completa

Brio und Espressivo bei Puccini

Puccinis "Bohème" komplett! Diesmal aus der Mailänder Scala (1979), und Kleiber breitet Italianità, Brio und Espressivo überaus feinsinnig aus. Mit einer Natürlichkeit, die den Herzschmerz der Musik nirgends sentimental wirken lässt. Der kalkulierten Emotionalität des Komponierten widerfährt alle Gerechtigkeit. Dieser Taktstockvirtuose war eben nicht nur ein brillanter Orchester-Dompteur, sondern auch ein hochsensibler Sänger-Begleiter am Pult. Luciano Pavarotti und Ileana Cotrubas dürfen sich von ihm auf Händen getragen fühlen.

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Carlos Kleiber: La Boheme (Puccini) La Scala 1979 (Complete) | Bildquelle: Matilda Edmund (via YouTube)

Carlos Kleiber: La Boheme (Puccini) La Scala 1979 (Complete)

Zwei Ouvertüren

Wie subtil Kleiber Musik am Dirigentenpult visualisierte – als wäre ein Bildhauer eigener Art am Werk! Ein 1970 und damit in der Blütezeit seines Lebens gefilmtes Doppelvergnügen sind Probe und Aufführung der "Freischütz"-Ouvertüre Carl Maria von Webers und der "Fledermaus"-Ouvertüre von Johann Strauß Sohn! Man erlebt, mit welchen Worten, wie impulsiv und doch überlegt Kleiber dem damaligen Südfunkorchester Stuttgart erklärt, was er sich an Phrasierung oder Dynamik wünscht. Und manches erklärt er auch, indem er vorsingt, was und wie die Damen und Herren spielen sollen.

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Carlos.Kleiber In rehearsal.&.Performance(1970) | Bildquelle: Giuseppe Barbareschi (via YouTube)

Carlos.Kleiber In rehearsal.&.Performance(1970)

Der Dreiertakt des Wiener Walzers

Ein Wiener Bonmot besagt, dass er auch hätte "Hänschen klein" dirigieren können – die Leute wären vor Begeisterung in Ovationen ausgebrochen. Symphonisches Repertoire hat Kleiber unter Studiobedingungen für CD bzw. LP ausschließlich mit den Wiener Philharmonikern aufgenommen. Zu den absoluten Höhepunkten der Zusammenarbeit gehören zwei auch als Bildtonträger extrem erfolgreich vermarktete Neujahrskonzerte der Wiener mit Kleiber. Ein Wunder an subtiler Agogik und Tempomodifikation! Den Dreiertakt des Walzers so zu variieren und damit zu beflügeln, dass man als Hörer in einen eigentümlichen Schwebezustand versetzt wird, ist eine Kunst, auf die sich kaum jemand so sehr verstand wie Carlos Kleiber.

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New Year's Concert 1992 Carlos Kleiber | Bildquelle: Shichao Jing (via YouTube)

New Year's Concert 1992 Carlos Kleiber

Witzige Probe – "Unter Donner und Blitz"

Zum Schluss: ein Ausschnitt aus einer Probe zum Wiener Neujahrskonzert von 1992 mit der Polka "Unter Donner und Blitz" von Johann Strauß Sohn, auf der es zu Irritationen wegen eines Beckenschlags im Orchesterpart kommt. Sehr witzig: wie sich Kleiber während der Diskussion mit den Musikern gibt, wenn er mitten in Wien immer wieder von "Bayern" spricht – mit dem er die Konkurrenz des Bayerischen Staatsorchesters in München meint.

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Carlos Kleiber - Probe / rehearsal - Unter Donner und Blitz | Bildquelle: Georg Fermata (via YouTube)

Carlos Kleiber - Probe / rehearsal - Unter Donner und Blitz

Sendungen:
"Klassik-Stars" am 03. Juli 2020, 18:05 Uhr auf BR-KLASSIK
"Carlos Kleiber – Ich bin der Welt abhanden gekommen" am 05. Juli 2020, 10:00 Uhr im Bayerischen Fernsehen

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