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Kommentar: Publikum in der Pandemie Bayern darf von Österreich lernen

In Österreich tausend Zuschauer, in Bayern nur zweihundert? Zwei Münchner Orchester protestierten in einem Offenen Brief an Ministerpräsident Markus Söder gegen die streng reglementierten Besucherzahlen bei Kulturveranstaltungen. Immerhin: Ein Pilotprojekt, beschränkt auf die Bayerische Staatsoper, soll nun 500 Personen im Publikum ermöglichen. Für alle anderen Säle in Bayern gilt das nicht. Unverhältnismäßig, findet BR-KLASSIK-Redakteur Bernhard Neuhoff.

Salzburger Festspiele 2020 Sitzkonzept Corona, Premiere "Così fan tutte" | Bildquelle: picture-alliance/dpa

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Wir stehen im Nebel, aber Nichtstun ist keine Option. Corona zwingt zum Handeln ohne abschließend gesichertes Wissen. Die Politik musste schnell entscheiden, und wie es scheint, hat sie in Deutschland gerade noch schnell genug entschieden. Corona zwingt aber auch zum permanenten Lernen. Gewissheiten von gestern erweisen sich als zweifelhaft. Scheinbar dringende Maßnahmen waren doch nicht so dringend. Andere dagegen wären viel wichtiger gewesen.

Maßnahmen müssen sich Erfahrungen anpassen

Es wäre abstoßend selbstgerecht, diese objektiv schwierige Lage den Entscheidungsträgern zum Vorwurf zu machen. Das heißt aber noch lange nicht, dass die Politik Lernfortschritte verweigern dürfte. Je mehr Zeit vergeht, je mehr Erfahrungen vorliegen, desto passgenauer müssen die Maßnahmen sein. Und das passiert ja auch – fast überall. Nur nicht in der Bayerischen Kulturpolitik.

Salzburger Festspiele 2020 Sitzkonzept Corona, Premiere "Così fan tutte" | Bildquelle: picture-alliance/dpa Die Salzburger Festspiele verteilten ihr Publikum im "Schachbrettmuster". | Bildquelle: picture-alliance/dpa In Salzburg sind gerade die Festspiele zu Ende gegangen. Mit einem ausgeklügelten Hygienekonzept ist es gelungen, tausend Menschen pro Vorstellung in die Säle zu holen und Orchester in normaler Aufstellung spielen zu lassen. Salzburg wurde zum Glück und entgegen allen düsteren Prophezeiungen eben nicht zum neuen Ischgl. Eine einzige Ansteckung bei einer Mitarbeiterin kurz vor Beginn der Festspiele hat die strenge Testroutine nachgewiesen, ansonsten ist bislang alles gut gegangen. Ja, die Inkubationszeit beträgt bis zu 14 Tagen, schlechte Nachrichten können also noch kommen.

Infektionsrisiko bei Kulturveranstaltung geringer als angenommen

Doch es bleibt eine gute Nachricht: Soweit bislang bekannt, haben sich schlimme Cluster von Ansteckungen im Musikbereich nur hinter oder auf der Bühne ereignet, meist bei Proben, nicht aber im Zuschauerraum. Verglichen mit dem, was in anderen Bereichen unserer Gesellschaft passiert, kann man deshalb schon jetzt sagen: Kulturveranstaltungen sind weniger gefährlich als man im März und April annahm, annehmen musste. Das ist kein Vorwurf gegen die damalige Entscheidung, die konnte nur auf damaligem Wissensstand getroffen werden. Doch jetzt ist es an der Zeit, pauschale Regeln anzupassen.

Keine Rücksicht auf konkrete Umstände

Die Münchner Philharmoniker im Gasteig | Bildquelle: Hans Engels Im Gasteig sitzen derzeit höchstens zweihundert Menschen. | Bildquelle: Hans Engels Warum nur zweihundert Menschen in einem Raum, der 2400 fasst wie der Münchner Gasteig? Warum ein starrer Deckel ohne Rücksicht auf konkrete Umstände? Warum schaut man nicht auf Raumvolumen, Art der Veranstaltung, Leistungsfähigkeit der Klimaanlage? Darf der Staat alles über einen Kamm scheren? Deutlich größere Abstände als in Salzburg könnte man durchaus fordern, mit nachvollziehbaren Gründen. Aber dann käme man immer noch auf sechshundert Plätze. So wie es in Hamburg, Köln oder Dresden längst Praxis ist.

Einer der wichtigsten Grundsätze unseres Rechts ist die Verhältnismäßigkeit. Jeder Eingriff des Staates muss legitime Ziele verfolgen. Daran besteht in diesem Fall kein Zweifel. Er muss geeignet sein, diese Ziele zu erreichen – auch diese Bedingung ist erfüllt: weniger Leute, weniger Gefahr. Mit diesen Argumenten allein könnte man aber auch eine Begrenzung auf nur zwanzig Zuschauer verlangen. Daher muss jede Maßnahme auch erforderlich und angemessen sein. Das heißt, es darf keine mildere Variante geben, die den gleichen Zweck erfüllt. Genau das ist aber der Fall – wie nicht nur das Beispiel Salzburg zeigt. Deshalb ist die pauschale Obergrenze von zweihundert Personen nicht begründbar. Und Ministerpräsident Söder gibt sich auch keine Mühe, diesen bayerischen Sonderweg zu begründen: Einen Offenen Brief von zwei Münchner Spitzenorchestern vom vergangenen Donnerstag ließ die Staatskanzlei bis heute unbeantwortet. Immerhin, der jetzt angekündigte Pilotversuch an der Bayerischen Staatsoper geht in die richtige Richtung. Doch auch er wirkt seltsam willkürlich. Warum sollte das, was im Münchner Nationaltheater möglich ist, in der Nürnberger Meistersingerhalle oder im Audimax der Universität Regensburg nicht möglich sein? Eine Begründung dafür sucht man vergeblich.

Dazulernen ist keine Schande. Österreich macht's vor.

Sendung: "Leporello" am 31. August 2020 ab 16.05 Uhr auf BR-KLASSIK

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