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Kritik – "Intolleranza 1960" in Salzburg Berührt, erschüttert und begeistert

"Intolleranza 1960" ist Luigi Nonos erstes großes Bühnenwerk, eine überwältigende Komposition mit Orchester, Gesang und Elektronik. Uraufgeführt wurde das Stück 1961 bei der Biennale in Venedig, begleitet von politischen Protesten. Bei den Salzburger Festspielen war die Musik des italienischen Komponisten in den letzten drei Jahrzehnten immer wieder in beispielhaften Produktionen zu erleben. Gestern feierte nun die Neuinszenierung von "Intolleranza 1960" in der Felsenreitschule Premiere. Am Pult der Wiener Philharmoniker stand Ingo Metzmacher, verantwortlich für die Regie ist Jan Lauwers.

Szene aus "Intolleranza 1960" in der Inszenierung von Jan Lauwers bei den Salzburger Festspielen 2021 | Bildquelle: SF / Maarten Vanden Abeele

Bildquelle: SF / Maarten Vanden Abeele

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Der Abend beginnt mit einer kleinen Irritation und wird dann – musikalisch wie szenisch und emotional – überwältigend: Jemand stolpert atemlos auf die linke Ecke ins noch halb dunkle Bühnengeschehen, rempelt ans dort verteilte Schlagwerk, wird festgehalten, wehrt sich. Es kommen immer mehr Menschen nach. Ein riesiges multikulturell besetztes Ensemble von Tänzern und Chorsängern verteilt sich auf der breiten Bühne der Felsenreitschule.

Die Inszenierung in Bildern

Fulminant und hoch expressiv der Wiener Staatsopernchor

"Leben heißt wach bleiben" singt der Chor. Er steht programmatisch am Anfang und Ende von Luigi Nonos "Intolleranza 1960". In fast allen der elf Szenen singt der Chor die Hauptpartie, zerklüftet in Einzelstimmen, rhythmisch vertrackt und mit unbequemen, gezackten Intervallsprüngen. Fulminant und hoch expressiv übernimmt das hier der Wiener Staatsopernchor.

Erzählt wird in diesem Stück – keineswegs kontinuierlich – von einem Auswanderer, den es drängt, in seine Heimat zurückzukehren. Er verlässt seine Frau, findet eine Gefährtin und begegnet auf seinem Weg Schrecknissen des 20. Jahrhunderts, die nach wie vor aktuell sind: Folter, Vertreibung, Naturkatastrophen.

Metzmacher beschwört opulente und zarte Klänge

Von Nono ausgewählte Texte von Sartre, Brecht oder Majakowski werden zusammengehalten durch eine intensive, im Raum aufgefächerte Musik. Das groß besetzte Orchester ist verteilt im hochgefahrenen Graben, auf der Bühne sowie rechts und links vom Publikum. Dirigent Ingo Metzmacher leitet die Wiener Philharmoniker samt Chor, Solisten und Zuspielungen großartig durch die opulenten wie stellenweise auch zarten Klänge dieser szenischen Aktion.

Regisseur Jan Lauwers setzt die Sängerinnen und Sänger sowie die Tänzer der Needcompany fast unentwegt in Bewegung: mal als anklagende Masse, mal als Flüchtende. Eindrücklich wird die Szenerie untermauert durch stellenweise projizierte Livevideos auf die geschlossenen Arkadengänge und fein gesetztes Licht. Schließlich hat Lauwers mit dem Blinden Poeten noch eine neue Figur eingeführt, die eine zeitlose Lesart unterstreicht. Im weißen Anzug zitternd rezitiert dieser Poet einen Text und wird schließlich vom höhnischen Gejohle der Menge vertrieben.

Herausragendes Sängerensemble

Ein geschickter dramaturgischer Griff: Neben dem Blinden Poeten agieren herausragende Sänger-Darstellerinnen und Darsteller. Sean Pannikar singt die extrem hohe Tenorpartie des Auswanderers exzellent, Sarah Maria Sun interpretiert die herausfordernde Rolle der Gefährtin scheinbar leicht über die Bühne tanzend.

Wenn so energiegeladen und überzeugend musiziert wird, hat Luigi Nonos Anklage über Intoleranz auch nach 60 Jahren nichts an Ausdruckskraft und Relevanz verloren. Diese sinnlich und physisch pointierte Produktion lässt die Musik und mit ihr auch das Leid der Welt einbrechen in die Komfortzonen des Theaters. Das Publikum ist berührt, erschüttert – und begeistert.

Sendung: "Allegro" am 16. August 2021 ab 08:05 Uhr auf BR-KLASSIK

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