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Verfassungsrechtler Dieter Grimm im Gespräch Über Kunstfreiheit in der Corona-Krise

Wegen der Corona-Pandemie bleiben seit im November alle Theater, Opernhäuser und Konzertsäle geschlossen. Ist es dem verfassungsmäßigen Rang der Kunst angemessen, wenn sie in einem Atemzug mit Spaßbädern und Bordellen als "Freizeitaktivität" genannt wird? Und was bedeutet laut Verfassung eigentlich "Kunstfreiheit"? BR-KLASSIK hat beim Verfassungsrechtler Dieter Grimm nachgefragt.

Neben einem Grundgesetz liegen Mundschutzmasken. | Bildquelle: picture alliance/dpa-Zentralbild

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BR-KLASSIK: Herr Grimm, die Kunstfreiheit ist ein Grundrecht in unserer Verfassung. Was geht in Ihnen als Verfassungsrechtler vor, wenn im Zuge der Corona-Maßnahmen die Kunst in einem Atemzug mit Spaßbädern und auch Bordellen unter der Rubrik "Freizeitaktivität" genannt wird, etwa in der Talkshow von Anne Will am 1. November 2020?

Dieter Grimm: Es ist schon ein bisschen befremdlich, wenn diese Dinge in einem Atemzug genannt werden. Aber es geht ja bei der Pandemie-Bekämpfung nicht darum, wer das höherwertige Gut anbietet, sondern wo und wie man Menschenansammlungen vermeidet. Und Menschenansammlungen kommen bei beiden vor, Freizeitaktivitäten und Kulturveranstaltungen.

Die Kunstfreiheit im Grundgesetz

Die Kunstfreiheit ist ein Grundrecht, das dem Schutz künstlerischer Ausdrucksformen dient. In Deutschland ist es in Artikel 5 Absatz 3 des Grundgesetzes verankert: "Kunst und Wissenschaft, Forschung und Lehre sind frei. Die Freiheit der Lehre entbindet nicht von der Treue zur Verfassung."

BR-KLASSIK: Allerdings trifft beide dasselbe Schicksal, Gottesdienste hingegen finden weiterhin statt. Bundeskanzlerin Angela Merkel hat diese Entscheidung am 2. November 2020 in einer Bundespressekonferenz damit begründet, dass "das Recht auf Religionsausübung ein sehr hoch stehendes Recht in unserem Land" sei. Was sagen Sie als Verfassungsrechtler dazu, dass es für die Kultur offenbar nicht gilt?

Der Verfassungsrechtler Dieter Grimm. | Bildquelle: akg-images / Dieter E. Hoppe Der Jurist Dieter Grimm war von 1987 bis 1999 Bundesverfassungsrichter. | Bildquelle: akg-images / Dieter E. Hoppe Dieter Grimm: Beide sind hochrangige Grundrechte. Keines steht dem anderen nach. Wenn Gottesdienste und Kulturveranstaltungen, die beide grundrechtlich geschützt sind, hinsichtlich der Virus-Bekämpfung verschieden behandelt werden, muss es zwischen ihnen Unterschiede geben, die das rechtfertigen. Ich kann sie nur darin erblicken, dass der Gottesdienst für die Gläubigen existentiellere Bedeutung hat als, sagen wir, das Konzert für den Musikliebhaber. Im Konzert ist man Rezipient, Teil eines Publikums. Die Gläubigen schauen sich den Gottesdienst nicht an. Sie sind in die kultische Handlung einbezogen, haben an dem, was sich dort nach ihrer Glaubensüberzeugung vollzieht, teil. Es ist wohl auch dem Musikliebhaber der vorübergehende mediale Kunstgenuss eher zuzumuten als dem Gläubigen der Gottesdienst am Fernseher. Wenn man überhaupt zwischen Gottesdiensten und Kulturveranstaltungen unterscheiden will, müsste man die rechtfertigenden Gründe wohl auf dieser Ebene suchen.

Ein Gläubiger im Gottesdienst ist kein Zuschauer einer Kulturveranstaltung.
Dieter Grimm, Verfassungsrechtler

Aber Ihre Frage hat ja noch eine größere Dimension. Immer geht es bei diesen Maßnahmen um die Vergleichbarkeit. Warum darf er öffnen, warum muss ich schließen? Geht es um Lebensmittelläden und Apotheken, ist das noch ziemlich einsichtig, in anderen Fällen weniger. Die Frage lautet stets, bis zu welchen Feinheiten der Vergleich vorangetrieben werden muss. Bei großflächigen Phänomenen und hohem Entscheidungsdruck wie im Fall der Pandemie verbieten sich die kleinteiligen Vergleiche. Auch das Bundesverfassungsgericht erlaubt bei Massenphänomenen gröbere Typisierungen.

Warum Theater, Konzertsäle und Opernhäuser wieder geschlossen sind

Die Bundeskanzlerin hat sich mit den Ministerpräsidentinnen und Ministerpräsidenten der Länder angesichts steigender Corona-Infektionszahlen auf drastische Einschränkungen des öffentlichen Lebens geeinigt. Dazu zählt, dass Theater, Opernhäuser und Konzertsäle seit dem 2. November geschlossen sind. Angela Merkel bekräftigte ihre Entscheidung im Bundestag. Die beschlossenen Einschränkungen seien "geeignet, erforderlich und verhältnismäßig", auch wenn viele Maßnahmen "eine unermessliche Belastung" darstellten und den Kern des menschlichen Miteinanders träfen.

Die Kunstschaffenden müssen in irgendeiner Weise entschädigt werden.
Dieter Grimm

BR-KLASSIK: Es gibt allerdings auch Menschen, für die Kunst eine Art Ersatzreligion ist, etwas Existenzielles. Für die Kulturschaffenden selbst ist die Situation auf jeden Fall existenziell. Dieter Hallervorden hat in Berlin Klage eingereicht, weil seine Theaterbühne schließen muss. Auch das Münchner Hofspielhaus klagt, die pauschale Schließung der Theater sei unverhältnismäßig - angesichts der Hygienekonzepte. Wie sind die Aussichten auf Erfolg mit solchen Klagen?

Dieter Grimm: Das wird vor allem davon abhängen, wie tief die Verwaltungsgerichte ins Einzelne gehen, wenn sie die Berechtigung der gesetzlichen Anordnungen prüfen. Untersuchen sie die speziellen Verhältnisse beim Münchner Hofspielhaus oder belassen sie es bei einer Pauschalbewertung für Theater im Allgemeinen? Wie gesagt, angesichts eines flächendeckenden Phänomens wie der Pandemie scheint mir nur der zweite Weg gangbar. Wichtiger scheint mir angesichts der umfassenden Schließungen im Kulturbereich allerdings, dass diejenigen, welche im Interesse der gesamten Gesellschaft ein beträchtliches Opfer bringen, dafür in irgendeiner Form entschädigt werden.

BR-KLASSIK: Sie meinen eine Art Lastenausgleich?

Dieter Grimm: Das ist die Idee. Den Einrichtungen fällt ja kein Verschulden zur Last. Sie tragen zur Verringerung der Ansteckungsgefahr bei, leisten also einen Beitrag zum Gemeinwohl. Einige leiden unter den Maßnahmen sehr, für andere ändert sich wenig, einige profitieren enorm von der Pandemie. Deswegen ist ein Ausgleich nötig, ob in Form eines Lastenausgleichs oder über das Steuerrecht oder direkte Zuwendungen, ist sekundär.

BR-KLASSIK: Sind Fördermittel denn rechtlich einklagbar?

Dieter Grimm: Die Förderbedingungen müssen gesetzlich festgelegt werden, und wer sie erfüllt und trotzdem nichts bekommen hat, kann selbstverständlich klagen.

Corona-Hilfen für Soloselbständige, Freiberufler und kleine Unternehmen

Die Bundesregierung erweitert die Hilfsangebote für Unternehmen, Betriebe, Selbstständige, Vereine und Einrichtungen, die von den am 28. Oktober 2020 beschlossenen Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie besonders betroffen sind. Die außerordentliche Wirtschaftshilfe bietet weitere zentrale Unterstützung in Form einer anteiligen Umsatzerstattung.

Dieser Artikel wurde am 6. November 2020 erstmals veröffentlicht und am 5. März 2021 aktualisiert.

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