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Erstes Live-Konzert der Münchner Philharmoniker mit Valery Gergiev Man vermisst sogar die Huster

Die Klassik wacht wieder auf. Am Dienstagabend gab es das erste Konzert in der Philharmonie im Münchner Gasteig mit Publikum und frei verkäuflichen Karten seit März. Gespielt haben die Münchner Philharmoniker, am Pult stand Chefdirigent Valery Gergiev. Es war traurig, es war notwendig, es war schön. Und es wäre schlimm, wenn es so weitergeht.

Die Münchner Philharmoniker im Gasteig | Bildquelle: Hans Engels

Bildquelle: Hans Engels

Gähnende Leere auf den Rängen im riesigen Gasteig. Anders gesagt: Der Saal ist ausverkauft. In den mittleren Blöcken sitzen versprengt ein paar Glückliche. Immerhin, man ist in Rufweite. 100 Menschen, verstreut auf 2400 Plätzen. Alle tragen Maske, durchgehend. Es gibt keine Pause, keinen Sekt, keine Häppchen und keinen Smalltalk. Nichts kann von der Musik ablenken. Kein Sitznachbar, der gelangweilt mit dem Programmheft raschelt, stört die Konzentration. So oft hatte ich diese Leute verflucht. Doch schon beim Hereinkommen in die öden Weiten des Saales ahne ich, dass ich sie herbeisehnen werde. 

Allein das Einspielen klingt wunderschön

Münchner Philharmoniker im Gasteig mit Mundschutz | Bildquelle: Hans Engels Die Münchner Philharmoniker spielen mit Abstand. | Bildquelle: Hans Engels Kein erwartungsvolles Gemurmel belebt den Raum – aber, und das klingt für einen Konzertsüchtigen auf Entzug wie Sirenengesang: ein Orchester, das sich einspielt. Live im Saal! Jetzt, hier, körperlich anwesend. Und ich darf das hören! Diese vertraute Kakophonie löst eine seltsame Welle von Gefühlen aus: ein paar Dutzend Musikerinnen und Musiker, die sich warmspielen, so banal und so wunderschön. Auch das gehört zu den vielen Dingen, die ich mir vor wenigen Monaten nicht hätte träumen lassen: Dass von etwas scheinbar so Unwichtigem einmal eine so große Wirkung ausgehen könnte.

Auf der Bühne sitzt ein Kammerorchester. Es handelt sich, wie Intendant Paul Müller in seinen Begrüßungsworten aufklärt, um "Orchester 1". Aus Hygiene-Gründen haben sich die Philharmoniker in zwei Gruppen aufgeteilt, die getrennt proben und konzertieren. Und obwohl diese Philharmoniker-Hälfte kaum 50 Musiker umfasst, beansprucht sie die ganze Breite des Podiums. Abstand ist wichtig. Jeder Streicher hat ein eigenes Pult. Die Trompeter schieben weiße Tupperschüsseln unter ihren Stuhl. Für das Kondenswasser aus den Rohren. Diese paar Tropfen landen normalerweise auf dem Bühnenboden. In Corona-Zeiten werden sie virensicher entsorgt. 

 Routiniert russisch

Gespielt wird Musik aus Russland, Valery Gergievs Heimat. Und obwohl sich dieses seltsame Konzert anfühlt, als würde man nur einer Probe beiwohnen, nehmen die Musikerinnen entschlossen den Kampf gegen die widrigen Umstände auf. Die ersten Sätze von Sergej Prokofjews "Symphonie Classique" klingen zwar noch etwas zu routiniert – Gergiev kann sowas –, um das gespenstische Setting vergessen zu machen. Aber ins Finale stürzen sich die Philharmoniker und ihr Chef mit einer Rasanz, die offenbar von einer lange aufgestauten Energie befeuert ist. Sie wollen es unbedingt, sie brauchen es – genau wie wir. Und sie können es: Dank der schlanken Besetzung liegt alles offen. Eine solche Transparenz muss man sich bei dieser schwindelerregend virtuosen Musik leisten können. 

Die Münchner Philharmoniker im Gasteig | Bildquelle: Hans Engels Viel Platz im Gasteig: Nur 100 Personen durften ins Publikum. | Bildquelle: Hans Engels Russisch geht's weiter: Solistin im 1. Klavierkonzert von Dmitrij Schostakowitsch ist die großartige Anna Vinnitskaya. Mit Witz und Verve und Lust an scharf gezeichneten Charakteren feuert sie die Streicher der Philharmoniker an. Außer einer Solotrompete, souverän gespielt von Guido Segers, gibt es keine Bläser in diesem Klavierkonzert. 

Die können ihre Klasse dagegen in Schuberts "Unvollendeter" unter Beweis stellen. Wunderbar dunkel und warm klingen die magischen Hörner- und Fagottklänge des Beginns. Und berührend verletzlich wirkt es, wenn die vier Cellisten das unvergessliche Seitenthema spielen: So kammermusikalisch und durchsichtig klingt das Orchester selten, wenn Gergiev Musik aus dem Umkreis der Wiener Klassik dirigiert. Schade nur, dass er sich so wenig für Phrasierung interessiert: Vor lauter Freude am ganz großen Bogen übersieht er die sprechenden Details. Das Modell ist immer noch die "unendliche Melodie", der alte Karajan lässt grüßen. 

Die starre Obergrenze ist unverständlich

Dass der Applaus so dürftig und schütter klingt, liegt aber natürlich nicht daran. Dieses groteske Rumpfpublikum kann noch so enthusiastisch klatschen – in den unendlichen Weiten der Philharmonie verflüchtigt sich das. Umso weniger versteht man, dass die Obergrenze von 100 Personen für alle Konzertsäle in Bayern gilt, egal wie groß der Raum und wie gut oder schlecht die Klimaanlage ist. Das muss die Staatsregierung dringend überdenken: Flexible, an die örtlichen Gegebenheiten angepasste Regeln müssen her. 

Lohnt sich das? Ja. Trotz allem war dieser Abend dringend notwendig. Denn er hat klargemacht, wie groß der Beitrag des Publikums zu einem gelungenen Konzert ist. Wie schön und wesentlich das ist, was sonst so oft als bloßes Drumrum geschmäht wird: Dass wir zusammenkommen, um Musik zu machen und zu genießen. Dass die Hörenden die Musik mitgestalten. Dass nichts den Live-Moment ersetzen kann, in dem die Musik eigentlich erst passiert. Die gemeinsam erlebte Zeit, die Aufmerksamkeit einer großen Zahl von Menschen, die von mehr oder weniger leisen Geräuschen grundierte Stille des Publikums: Sie sind unersetzlich. Letztlich ist das ein bisschen wie in der Liebe: Natürlich ist es schön, sich zu schreiben oder miteinander zu skypen, solange man nicht im gleichen Raum sein kann. Aber das Eigentliche passiert halt doch nur dann, wenn man beieinander ist.

Zum Anhören

BR-KLASSIK hat das Konzert der Münchner Philharmoniker mitgeschnitten – zu hören am 1. Juli 2020 ab 14 Uhr im Radio auf BR-KLASSIK. Am Donnerstag, den 25. Juni 2020 gibt's ein weiteres Konzert im Münchner Gasteig mit Chefdirigent Valery Gergiev für 100 Zuschauerinnen und Zuschauer. Karten gibt es hier.

Sendung: Allegro am 24. Juni 2020 ab 06.05 Uhr

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