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Kommentar zur Nussknacker-Absage am Berliner Staatsballett Nussknacker-Zensur? Entspannt euch!

Kein Nussknacker zu Weihnachten: Das Berliner Staatsballett hat Tschaikowskys Ballettklassiker aus dem Programm genommen. Die Inszenierung enthalte ethnische Stereotype und werde deshalb kritisch geprüft. Klingt nachvollziehbar. Der mediale Aufschrei ist allerdings groß. Von Cancel Culture und einem "Kotau vor dem Zeitgeist" ist die Rede. Zu Recht? BR-KLASSIK-Autor Tobias Stosiek kommentiert.

Nussknacker in Reih und Glied. | Bildquelle: picture alliance / ZB | Jens Kalaene

Bildquelle: picture alliance / ZB | Jens Kalaene

Kommentar zur Absage am Berliner Staatsballett

Nussknacker-Zensur? Entspannt euch!

Bei der WELT hat man ein Herz für Kinder. Wie schön, dass ihr Feuilletonredakteur vor allem an den Hauptstadtnachwuchs denkt, der dieses Jahr auf den Nussknacker verzichten muss. Schluchz. Und wer ist schuld? Na klar, die gemeine Cancel Culture. Und der Zeitgeist. Und die – Achtung! – "sozialen Niedertrachtsmedien". Nochmal schluchz. Man hat es schon schwer als sensibler Feuilletonist.

It's the choreography, stupid!

Dabei könnte man ja meinen, dass den allermeisten Berliner Kindern dieser Verzicht nicht so wahnsinnig schwerfallen wird. Um aber alle zu beruhigen, die sich schon das ganze Jahr auf ihr Weihnachtsballett gefreut haben: Andere Theater spielen ihn, den Nussknacker, auch in Berlin. Nur eben nicht so – in der Inszenierung von Marius Petipa.

Das ist nämlich das erste Missverständnis, das einige Kommentatorinnen und Kommentatoren bemühen, um sich selbst die Erlaubnis zu geben, Cancel Culture zu schreien: 'Alarm, jetzt darf man nicht mal mehr den Nussknacker spielen!' In Frage steht aber nicht der Nussknacker, also das Stück, sondern eine bestimmte Inszenierung desselben. Und zwar eine, die ungefähr 130 Jahre auf dem Buckel hat.

Uralte Petipa-Inszenierung ausgemottet

Der Nussknacker, Ballett von Vasily Medvedev und Yuri Burlaka nach E.T.A Hoffmann, Staatsballett Berlin in der Deutschan Oper Berlin, (v.l.): Iana Salenko (Clara), Marian Walter (Nussknacker). Die Premiere des Stuecks findet am 23.10.2013 statt. | Bildquelle: picture alliance / Eventpress Hoensch | Eventpress Hoensch Schön aber veraltet: Szene aus der Nussknacker-Choreographie von Marius Petipa | Bildquelle: picture alliance / Eventpress Hoensch | Eventpress Hoensch Vor einigen Jahren kam man am Staatsballett nämlich auf die glorreiche Idee, die Originalinszenierung von Marius Petipa aus dem Jahr 1892 nochmal auszumotten. Und Überraschung: Die enthielt so einiges, was nach heutigen Standards nicht geht. Blackfacing zum Beispiel. Nach Protesten wurden entsprechende Szenen schon 2015 geändert. Und das ist nicht das Einzige, was an der Inszenierung problematisch ist. Dazu kommen zum Beispiel chinesische und orientalische Tänze, die stereotype Bewegungsmuster verwenden – Trippelschritte etwa. Kurz gesagt: Hier werden Klischeebilder und Karikaturen von asiatischen oder arabischen Menschen reproduziert wie sie zu Kolonialzeiten lebendig waren. Darf man das kritisieren? Nein, man muss!

Christiane Theobald, Chefin des Staatsballetts, hat sich jedenfalls (übrigens ohne Zutun der "sozialen Niedertrachtsmedien") entschieden, den Nussknacker vorerst aus dem Programm zu nehmen, um solche Stellen zu überprüfen und zu überlegen, ob und wie sie sich in der Aufführung angemessen kontextualisieren lassen. Dabei betonte sie gegenüber der BILD, dass sie sich durchaus vorstellen könne, den Nussknacker wieder zu programmieren: "Ich schaffe es nur nicht in dieser Geschwindigkeit, das jetzt alles zu durchleuchten."

Nussknacker: geprüft, nicht gecancelt

Und hier ist das zweite Missverständnis, das in Kommentaren gerne wiederholt wird: Nein, die Inszenierung verschwindet nicht einfach. Sie wird überprüft, inklusive der Option, sie wieder auf die Bühne zu bringen. Im Idealfall so, dass sie eine kritische Auseinandersetzung mit den Kolonialfantasien des 19. Jahrhunderts möglich macht – und diese nicht einfach wiederholt. Ob das klappt, ist offen. Der Versuch verdient jedenfalls Anerkennung.

Und er ist konsequent: Nachdem das Staatsballett letztes Jahr von Rassismusvorwürfen erschüttert worden war, hatte Theobald angekündigt, das Repertoire zu überprüfen, um "überholte und diskriminierende Aufführungsweisen aufzudecken und Traditionen in neuem Licht und mit anderem Bewusstsein zu sehen und neu zu bewerten." Nichts anderes geschieht derzeit weltweit an vielen Ballettinstitutionen, von London über Paris bis nach New York. Die gute Nachricht: Auch dort wird der Nussknacker weiterhin gespielt. Nur eben anders.

Dass sie dieses Jahr auf diesen (und nicht den) Nussknacker verzichten müssen, werden die Hauptstadtkinder bestimmt verkraften. Und sensible Feuilletonisten auch. Vielleicht.

Sendung: "Allegro" am 29. November 2021 ab 6.05 Uhr auf BR-KLASSIK

Kommentare (17)

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Dienstag, 07.Dezember, 16:04 Uhr

Pasinoe

für dumm verkauftes Publikum

was wird als nächstes abgesagt?Schwanensee?! Immerhin tanzt da als Protagonist ein "weisser" Schwan =gut gegen Ihren Antagonisten den "schwarzen(Oh mein Gott)" Schwan =böse!!!!
Wer ist als ungebildet zu bezeichnen, derjenige der sich als liberaler und gebildeter Mensch einen Theather Besuch leistet und es geniesst für ein paar Stunden unterhalten zu werden? Oder der, welcher glaubt das sein Publikum aus solchen Idioten besteht und nach der Aufführung hingeht und ein Flüchtlingsheim angreift?!
Dank Instagram ist es jedem Kind ab dem 2.Lebensjahr vergönnt zu erkennen, das Chinesen keine "Tippelschritte" machen, dies aber durch Jahrhunderte hinweg den chinesischen Frauen wegen der brutalen Tradition von Lotusfüßen nicht anders möglich war, und der Nussknacker spielt noch in dem Jahrhundert der Lotusfüße.
Ballettaufführungen dienen der Unterhaltung und hatten niemals einen politischen Anspruch!
Ich bitte Sie nur um eines: "Mal ganz einfach den Ball flach zu halten,"

Sonntag, 05.Dezember, 11:44 Uhr

Andreas Carl

Benussknackert

Niemand geht mit seiner Familie zu Weihnachten zum Don Quichote. Und auch da, wollte man der Logik des Autors folgen, sollte man prüfen, ob da nicht vielleicht ein etwas stereotypisches Bild Spaniens gezeichnet wird?

Eine krasse Fehlentscheidung einer Balletkompagnie, die seit dem Rauswurfs Malakhovs einen beispiellosen Niedergang erlebt.

Sonntag, 05.Dezember, 00:31 Uhr

Jeff

@Autor

Kunstverständnis mangehaft.

Hier geht es um die Reproduktion einer historischen Aufführung mit all dem, was dort damals gezeigt worden ist. Die mündige Kunstrezipient*in wird das selbst einordnen können. Wenn sie das einfach abändern, ist der Zweck dieser Aufführung dahin. Es ist eben nicht egal.

Richtig wäre, vielleicht in dem Programmflyer oder in einer Einleitung vor der eigentlichen Aufführung darauf hinzuweisen, dass dort evtl. rassistische Darstellungen enthalten sein könnten. Wenn der Sinn dieser Aufführung die Reproduktion einer historischen Aufführung ist, ist es intellektuell nicht redlich, dies abzuändern oder zu zensieren.

Die andere Alternative ist es, das Stück nicht mehr aufzuführen. Allerdings wäre letzteres für das Kunstverständnis ein Armutszeugnis.

Es ist etwas anderes, wenn zeitgenössische Stücke nach den aktuellen Normen bewertet werden. Werke in ihrer Geschichte, werden immer den Mangel ihrer Zeit enthalten. Deswegen gehören sie aber nicht in den Giftschrank.

Freitag, 03.Dezember, 11:10 Uhr

Peter Düpper

Nussknacker Absetzung

Nicht nur Herr Stosiek liegt völlig daneben mit seinen Auslassungen, auch die Leitung des Staatsballets der grössten Hauptstadt der Welt des grössten Landes der Welt legt fest, was vor und seit 130 Jahren die Menschen begeistert. Der Nussknacker von Tschaikowski ist es nicht.
Lesen Sie die Meinung des russischen Botschafters von heute in der
Berliner Zeitung und Sie fühlen evtl. etwas Kultur, Intelligenz und Grösse ….!

Donnerstag, 02.Dezember, 23:24 Uhr

Katharina Weiss

Nussknacker

Es ist doch Cancel Culture. Ein gemeiner Kommentar, der sich über eine skandalöse Entscheidung lustig macht. - Die Originalchoreographie von Petipa ist wunderbar und sollte auf jeden Fall noch immer gezeigt werden. Die Dame, die das verboten hat hat wenig Ahnung von Kunst.
Kunst ist keine Wirklichkeit und besonders dieses Ballett ist märchenhaft - die Darstellungen sind phantasievoll und nicht mit der Wirklichkeit gleichzusetzen. Traurig, wenn Leute, die von KUnst nichts verstehen so viel Schaden anrichten können - aber das Ballett mit der Chorogr. vo. Petipa wird bleiben.

Donnerstag, 02.Dezember, 22:00 Uhr

Christian Fledersen

Bah, Humbug!

Policial Correctness ist das Schlimmste, das Kultur passieren kann.
Woke-Sein ist ein schreckliches Charakterdefizit, das Humor- und Talentlosigkeit voraussetzt.
Wenn solche Leute nun diktieren, wo es langgeht, sind wir verloren.

Mittwoch, 01.Dezember, 21:57 Uhr

Huflaikhan

Culture is cancel

Es gibt keine Kultur ohne Probleme. Kultur selbst das Problem, was die Probleme erzeugt. Es gehört zur zweiten Natur von Kultur, dass sie nicht die Realität ist. Darum ist sie immer falsch. Ballett, Musik, Theater, Literatur. Deswegen gilt sie in autoritären Systemen als Gegenstand, dem man misstrauen muss bishin zur Abschaffung. Es gibt keine Kunst, die dem nicht zum Opfer fallen könnte.

Mittwoch, 01.Dezember, 12:08 Uhr

Mara Luka

Danke

Danke für diesen treffenden und informativen Kommentar!

Mittwoch, 01.Dezember, 09:28 Uhr

Sires Agnes

Nussknacker

Liebe Redaktion von BR Klassik,
in der Geschwindigkeit, wie Sie sich dem linken Zeitgeist anpassen, gehen Ihnen auch die treuen Zuhörer verloren!
Sie meinen, man soll „entspannen“! Mitnichten darf man sich in diesen Zeiten, in denen unsere Kultur von „Kulturvermittlern“ und „Kulturschaffenden“ in den berühmten „Giftschrank“ eingesperrt wird, entspannen!!!
Protestieren sollte man, durch die „Abstimmung mit den Füßen“, in diesem Fall „Abstimmung mit den Ohren“!
Ich habe das gemacht: ich war bis vor kurzem eine treue, langjährige Zuhörerin Ihres Senders! Die Betonung liegt auf „ich WAR“!
Viel mehr Menschen müssen es tun und es Ihnen auch mitteilen! So gibt es eine Chance, dass Sie Ihre Haltung zu unserer Kultur überdenken und wieder zu dem Sender werden, der Sie mal waren: ein Vermittler unserer europäischen klassischen“ Musik, ohne erhobenen Zeigefinger, ohne uns im linken Zeitgeist „erziehen“ zu wollen! Ich bitte um die Veröffentlichung meines kritischen Kommentars! Vielen Dank

Mittwoch, 01.Dezember, 09:22 Uhr

Tinn

Tim Theo

Es wäre zu begrüßen, wenn der Autor seinen Behauptungsjournalismus mit begründender Recherche unterfüttern könnte. Warum muss man blackfacing, Arabisches, Asiatisches kritisieren? Der Bericht trieft von Hohlformlen. Anbiederung an dümmliche Meinungsmache macht ärgerlich.

Dienstag, 30.November, 12:35 Uhr

Renate von Törne

"Allegro" 29.11.21: Kommentar "Nussknacker"-Absage

Sehr geehrte Damen und Herren,
Herr Stosiek gibt sich durch den Gebrauch des Englischen sehr "trendy", könnte aber vielleicht ganz altmodisch auch auf den sorgfältigen Gebrauch der Muttersprache achten. Es handelt sich wohl kaum um "HauptSTANDkinder", sondern um die Kinder unserer "trendy" HauptSTADT!
Oder habe ich einen Witz nicht verstanden? Zum Thema: Vielleicht sollte man wegen der
frauenverachtenden Titelfigur auch "Don Giovanni" aus den Spielplänen nehmen? Ich frage mich – jetzt leider auch beim BR: Geht's noch?
Mit freundlichen Grüßen
Renate von Törne

Liebe Frau von Törne,

bei den 'Hauptstandkindern' handelte es sich natürlich um einen Tippfehler. Wir haben diesen korrigiert.

Herzlich,
Ihr BR-KLASSIK

Dienstag, 30.November, 00:15 Uhr

Johannes Huber

Nie wieder 'alla turca' ?

Kultur vergangener Zeit ist Zeitzeugnis und nicht heutige Denkweise. Das Wiedererleben damaligen Erlebens anderer Völker und Menschen in Musik, Oper und Theater kann sehr wohl z.B. in Programmheften informativ erörtert werden und kritisch beleuchtet werden, ist aber wertfreier Teil von Kunst und sollte ohne verfälschende Cancel Culture wiedergegeben werden. Sonst können wir Mozarts A-Dur-Klaviersonate KV 331 auch nur noch gekürzt hören, weil der 'alla turca'-Satz als ethnischer Stereotyp nicht gespielt werden darf und seine Noten auf dem Index landen.

Montag, 29.November, 19:21 Uhr

Konrad Schemer

Nussknacker

Um nur eines herauszugreifen: sollte es dem Autor tatsächlich entgangen sein, dass Frauen in China über Jahrhunderte die Füße gebunden wurden, weil kleine Füße und Trippelschritte als erotisch galten? Also von wegen Klischee: das war bittere Realität im Reich der Mitte bis vor ca 100 Jahren.

Montag, 29.November, 19:16 Uhr

Gregory Ingleright

Ideologische Zensur

Was um Himmels Willen soll das? Natürlich ist das Cancel Culture! Und wollen Sie sich wirklich hämisch und äußerst provinziell über die "Hauptstadtkinder" lustig machen? "Schluchz"? Dieser billige Sarkasmus ("glorreiche Idee, die Originalinszenierung von Marius Petipa aus dem Jahr 1892 nochmal auszumotten"; "cozy Weihnachtsballet", usw.) sagt sehr viel über den Autor (ein Möchtegern-Feuilletonist?), der offenbar keine Ahnung von Kultur und kein Respekt für die Schätze der Kulturgeschichte hat. Nur solche Leute massen sich an, klassische Werke nach ideologiegeladenen Kriterien zu "überprüfen" und zu zensieren.

Montag, 29.November, 13:24 Uhr

Christian Kogge

Nussknacker

"Dass sie dieses Jahr auf ihren Nussknacker verzichten müssen, werden die Hauptstandkinder bestimmt verkraften."

Ebenso wie der BR als Monopolist sicher darauf verzichten kann, dass treue Hörer wie ich ihn in Zukunft weiter nutzen werden.

Machen Sie nur weiter so: die immer weniger verbliebenen Hörer stoßen sie vor den Kopf während Sie die "woken Zeitgeistler" als neue Hörer nicht gewinnen werden.... und irgendwann werden Sie dann wegen Bedeutungslosigkeit abgewickelt.

Und jetzt bin ich mal gespannt, ob Sie immerhin noch die "Größe" haben, kritischen Kommentar wie diesen zu veröffentlichen.....Ich zweifele!

Montag, 29.November, 13:22 Uhr

Wolfgang Jäckle

Schaffen Sie doch die Kultur gleich ganz ab!

Hier werden mal wieder massenhaft Kinder mit dem Bade ausgeschüttet. Wer sich an Trippelschrittchen von Ostasiaten stört, der sollte sich auch der armen Mäuse annehmen, die in diesem Ballett hingemeuchelt werden. Deshalb gehört nicht nur "Der Nussknacker" auf den Index, sondern natürlich auch die literarische Vorlage von E.T.A.Hoffmann. Eigentlich geht gar nichts mehr: Nicht Carmen, nicht der Zigeunerbaron und schon garnicht das rassistische Lied von den drei Chinesen mit dem Kontrabass! Alles, was vor uns war, darf sich nicht mehr Kultur nennen.

Montag, 29.November, 11:59 Uhr

Ibel Klaus

Widersinnig, dass der Kommentator "sensible" Kollegen*innen lächerlich machen will, wo es doch angeblich um Sensibilität gegenüber 'anderen' geht, oder gilt das jetzt nur noch bei Ethnien ? Irgendwie klingt da manches an den Kultur-Imperialismus des 20. Jahrhubderts.

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