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Kritik – Brittens "War Requiem" bei den Salzburger Festspielen Gustav-Mahler-Jugendorchester rettet den Abend

Lange hatte es so ausgesehen, als würde in Salzburg dieses Jahr alles nach Plan laufen. Doch Corona bleibt ein Thema. Schon beim Eröffnungskonzert erwischte es die Planung der Festspielleitung: Das City of Birmingham Symphony Orchestra konnten wegen Reisebeschränkungen nicht kommen. Und so dirigierte Mirga Grazinyté-Tyla am Sonntagabend das eilig aus den Ferien zusammengetrommelte Gustav-Mahler-Jugendorchester und den Wiener Singverein. Auf dem Programm: das "War Requiem" von Benjamin Britten. Bernhard Neuhoff war für BR-KLASSIK dabei.

Mirga Gražinytė-Tyla  | Bildquelle: © Frans Jansen

Bildquelle: © Frans Jansen

Der Chor singt vom Tag des Zorns, vom Dies Irae. Und gerade habe ich, mit den aktuellen Bildern aus den Nachrichten im Kopf, auf dem Weg zum Festspielhaus das reißende braune Wasser der bedrohlich angeschwollenen Salzach gesehen. Vielen Besucherinnen mag es ähnlich gegangen sein: Manchmal gewinnt ein Stück Musik aus einem aktuellen Anlass, von dem der Komponist natürlich nichts wissen konnte, große Dringlichkeit.

Mirga Grazinyté-Tyla sorgt für berührende Momente in Salzburg

Der emotionalen Kraft dieser Totenklage kann sich an diesem Abend ganz offenbar niemand entziehen. Schon aus rein musikalischen Gründen nicht, denn diese Aufführung ist durchweg stark. Lange, sehr lange schweigt das Publikum nach dem unwirklichen Schluss. Wie der Wiener Singverein auf einen verhaltenen Wink der Dirigentin Mirga Grazinyté-Tyla hin auf diesen Dur-Dreiklang einschwenkt, im allerletzten Moment, fragend, zögernd, aber noch im leisesten pianissimo leuchtend, das ist wirklich sehr berührend.

Viele im Publikum behalten die Masken an

Der Saal ist voll besetzt, anders als in Bayern dürfen alle Plätze verkauft werden. Am Eingang werden nicht nur mein Ticket, sondern auch mein Impfpass und mein Personalausweis geprüft. Masken sind nicht verpflichtend, es wird aber appelliert, eine zu tragen. Etwa die Hälfte des Publikums folgt der Empfehlung, auch ich behalte meine Maske an. Unter den sehr guten Solisten ragt Allan Clayton heraus. Eine Idealbesetzung: Claytons heller, ganz vorn sitzender Tenor erinnert ein wenig an die Stimme von Peter Pears, dem Tenor der Uraufführung und Benjamin Brittens Lebenspartner. Nur dass Clayton natürlicher klingt, leichter, müheloser. Eine großartige Leistung.

Brittens "War Requiem" als Vision der Hoffnung

Benjamin Britten | Bildquelle: picture-alliance/dpa Der Komponist Benjamin Britten | Bildquelle: picture-alliance/dpa Benjamin Britten erzählt in seinem War Requiem von einer menschengemachten Katastrophe, dem Krieg. Und er setzt ihm eine Vision der Hoffnung entgegen. Damals, bei der Uraufführung 1962, war schon der Ort ein Symbol: die von den Deutschen zerbombte, aber wiederaufgebaute Kathedrale von Coventry. Die Solisten kamen aus Ländern, die sich gerade noch bekriegt hatten: Der Tenor aus England, der Bariton aus Deutschland und die Sopranistin aus der Sowjetunion, damals das neue Feindesland.

Orchester-Tausch wegen drohender Quarantäne

Das Orchester der Uraufführung war das City of Birmingham Symphony Orchestra, dessen heutige Chefin Mirga Grazinyté-Tyla ist. Zusammen mit dem City of Birmingham Choir hätte es Brittens War Requiem auch an diesem Sonntagabend aufführen sollen. Die Einreise nach Österreich wäre möglich gewesen, doch nach der Rückreise hätten an die 200 Personen in Quarantäne gemusst. Daher die Absage. Mitten in den Ferien mal eben ein Spitzenorchester und einen Chor auftreiben zu müssen, ist selbst für den umbesetzungserprobtesten Kulturmanager ein Albtraum. Das Gustav-Mahler-Jugendorchester, das aus jungen Musikerinnen und Musikern aus ganz Europa besteht, rettete den Abend: In kürzester Zeit wurden 91 Menschen aus 18 Ländern nach Salzburg gebracht. Das Wiener Außenministerium half. Auch zahlreiche Mitglieder des Wiener Singvereins verzichteten auf ihren Urlaub.

Grazinyté-Tyla: in Brittens Musik zuhause

Dirigentin Mirga Grazinyte-Tyla | Bildquelle: Ben Ealovega Mirga Grazinyté-Tyla hat eine ganz eigene Zeichensprache: tänzerisch, fließend, aber präzise. | Bildquelle: Ben Ealovega Improvisiert wirkt der Abend jedoch ganz und gar nicht. Mirga Grazinyté-Tyla hat ganz offenbar sehr sorgfältig geprobt. Die jungen Musikerinnen und Musiker, verstärkt von 13 Mitgliedern des Radio-Sinfonieorchesters Wien, spielen auf internationalem Niveau. Grazinyté-Tyla hat eine ganz eigene Zeichensprache: tänzerisch, fließend, aber präzise. Mit schwungvollen, weit ausgreifenden, fliegenden Gesten der linken Hand transportiert sie Emotion, mit energischen, kleinen Schlägen der Rechten gibt sie das Timing. In Brittens Musik ist sie zuhause: Nicht nur die bildhaften und effektvollen Abschnitte haben große Kraft, sondern ganz besonders auch die meditativen. Ein Abend, der mich berührt.

Sendung: "Allegro" am 19. Juli 2021 ab 6:05 Uhr auf BR-KLASSIK

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