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Interview - Maurizio Pollini Zwischen Fabrikhalle und Goldenem Saal

Heute wird er für seine Recitals in den größten Konzertsälen der Welt gefeiert. In den 70er-Jahren spielte Maurizio Pollini aber auch für die Arbeiter in italienischen Fabrikhallen. Politisches Engagement sei ihm allerdings immer noch wichtig, sagt er im Interview mit BR-KLASSIK. Am 5. Januar feiert Maurizio Pollini seinen 75. Geburtstag.

Maurizio Pollini in der Salle Pleyel, 2009 | Bildquelle: picture alliance/Leemage

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BR-KLASSIK: Sie setzen sich sehr intensiv mit dem Notentext auseinander. Wie viel Raum bleibt für spontane, improvisierte Änderungen während des Konzerts? 

Maurizio Pollini: Ich will immer frei sein und ich fühle mich auch so, ganz egal ob im Konzert oder daheim, wenn ich für mich spiele. Das ist mein Zugang zu Musik.

BR-KLASSIK: Sind Sie dann manchmal überrascht von dem, was Sie im Konzert machen?

Maurizio Pollini: Jedes Konzert ist eine unverwechselbare und neue Erfahrung. Irgendwas passiert immer und das hat sicher etwas mit unserem Unterbewusstsein zu tun. Wir erleben die gleiche Musik jeden Tag anders. Also ein Konzert, das ist ein Ereignis, jedes Mal, es muss da sogar etwas passieren.

Ich habe eigentlich beides geerbt, die Liebe zur Musik und das Interesse für die zeitgenössische Kunst.
Maurizio Pollini

BR-KLASSIK: Es gibt viele Musiker, die sagen, es reicht nicht, sich nur mit Musik zu beschäftigen. Man müsse sich auch mit Literatur, mit bildender Kunst, mit der Gesellschaft auseinandersetzen - damit man lebendig bleibt, Dinge aufnimmt und einbringt in sein Spiel. Ist das auch eines Ihrer Geheimnisse?

Maurizio Pollini: Das Verhältnis zwischen der Musik und den anderen Künsten lässt sich schwer definieren. Natürlich hilft es einem dabei als Mensch lebendig zu bleiben, wie Sie sagen. Vielleicht auch als Musiker, aber das ist ein sehr geheimnisvoller Prozess.

BR-KLASSIK: Ihr Vater war Architekt und auch Hobby-Musiker. Hat diese Beziehung zur bildenden Kunst irgendeinen Einfluss auf Sie gehabt?

Maurizio Pollini | Bildquelle: Imago/Leemage Maurizio Pollini am Flügel | Bildquelle: Imago/Leemage Maurizio Pollini: Mein Vater war in den Zwanziger- und Dreißigerjahren einer der ersten modernen Architekten in Italien. Aber er liebte auch sehr die Musik, genau wie meine Mutter und deren Bruder, mein Onkel Fausto Melotti - ein berühmter Bildhauer. Meine Mutter spielte Klavier, mein Vater Geige, sie spielten Sonaten zusammen. Also ich habe eigentlich beides geerbt, die Liebe zur Musik und das Interesse für die zeitgenössische Kunst.

BR-KLASSIK: Wie haben Sie als Kind die klassische Musik für sich entdeckt?

Maurizio Pollini: Meine ersten Platten waren Konzerte von Bach und Vivaldi und die Beethoven-Symphonien. Das waren meine ersten musikalischen Erfahrungen.

BR-KLASSIK: Und wie haben Sie sich dann das Klavier erschlossen?

Maurizio Pollini: Ich kam zu einem Klavierlehrer, habe angefangen und dann ging alles automatisch.

Politik im Konzertsaal

BR-KLASSIK: Sie haben sich in den Siebzigern auch sehr stark politisch engagiert. Sie haben in Konzerten Manifeste vorgelesen gegen den Vietnam-Krieg. Könnten Sie sich vorstellen, so etwas wieder zu tun?

Pianist Maurizio Pollini | Bildquelle: Cosimo Filippini "Meine Überzeugungen sind immer noch die gleichen" - Maurizio Pollini | Bildquelle: Cosimo Filippini Maurizio Pollini: Ich glaube, ich habe mich gar nicht so stark verändert gegenüber damals. Ich habe immer noch sehr klare politische Ansichten. Natürlich haben sich manche Perspektiven verschoben, es ist ja viel Zeit vergangen. Aber meine Überzeugungen sind immer noch die gleichen. Und ich kann mir sehr gut vorstellen, dass wieder einmal eine Zeit kommt, in der ich mich gedrängt fühle, in einem Konzert dem Publikum bestimmte Dinge zu sagen. Aber das darf immer nur eine Ausnahme sein, eine letzte Möglichkeit, um gegen Entwicklungen anzukämpfen, die unerträglich sind.

BR-KLASSIK: Sie haben in den Siebzigerjahren auch Konzerte in Dörfern und Fabrikhallen vor Leuten gespielt , die sonst mit klassischer Musik nicht so leicht in Berührung kommen. Heute ist die Situation fast noch dringlicher: die klassische Musik droht auf lange Sicht ihr Publikum zu verlieren, weil immer weniger junge Leute ins Konzert kommen. Welche Wege sehen Sie, um ein neues Publikum zu gewinnen?

Maurizio Pollini: Sie haben recht, wir müssen auf neue Weise um ein junges Publikum werben. Nur wenige junge Leute interessieren sich für Klassik und da entgeht ihnen sehr viel. Wenn man sich umsieht, hat man das Gefühl, dass es immer da, wo die Verantwortlichen echten Mut haben, deutlich besser läuft als anderswo. Ich glaube, da hängt sehr viel von den Veranstaltern ab.

BR-KLASSIK: Sie haben ja selbst innovative Programmkonzepte entwickelt, wie das Progetto Pollini bei den Salzburger Festspielen. Welche Pläne verfolgen Sie damit?

Maurizio Pollini: Die Grundidee dieser Konzerte ist, Musik aus unterschiedlichen Perioden der Musikgeschichte miteinander zu kombinieren. Und natürlich geht es mir dabei nicht zuletzt um die Musik der klassischen Moderne und der Gegenwart. Das ist ein experimentelles Konzept. Ich verfolge die Utopie eines Publikums, das sich für Musik von Bach genauso interessiert und begeistert, wie für Musik von Stockhausen oder von alten Komponisten wie Machaut oder Ockeghem. 

Musik verstehen

BR-KLASSIK: Wenn Sie zurückblicken auf Ihre über 50-jährige Karriere und die Entwicklungen, die Sie durchgemacht haben - glauben Sie, dass Sie die Musik heute tiefer verstehen als früher?

Maurizio Pollini: Was ist das, Musik verstehen? Wie wollen Sie das definieren? Ich denke oft darüber nach. Woran kann man erkennen, ob man eine bestimmte Musik versteht oder nicht? Ich glaube, alles was wir wissen, ist das: es gibt da einen Reichtum, eine Fülle von Gefühlen. Und wenn Musik in uns einen solchen Reichtum an Gefühlen auslöst, wenn sie uns viele verschiedene Dinge sagt, dann ist das wohl das einzige, woran man irgendwie erkennen kann, ob man etwas von der betreffenden Musik verstanden hat. Nur ist man sich eben nie absolut sicher, dass man sie wirklich versteht, nicht wahr? Aber das kann ich schon sagen: dass mir die Musik heute noch sehr viel mehr sagt und mitteilt als früher, ganz sicher. 

Dieses Interview wurde bereits im Jahr 2006 aufgezeichnet. Die Fragen stellte Bernhard Neuhoff für BR-KLASSIK.

Maurizio Pollini

wurde am 5. Januar 1942 in Mailand geboren. Er galt als pianistisches Wunderkind, gab schon 1953 sein erstes öffentliches Konzert und krönte seine frühe Karriere 1960 mit einem Sieg beim Chopin-Wettbewerb in Warschau. Seit Mitte der Sechzigerjahre ist Maurizio Pollini als Solist in allen bedeutenden Musikzentren der Welt aufgetreten. Neben dem klassischen Repertoire ist ihm die zeitgenössische Musik ein großes Anliegen.

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