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Album der Woche – Igor Levit: "Encounter" Konzentration auf das Wesentliche

Igor Levit, Pianist, in der Saison 2020/21 Artist in Residence beim Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks, hat, wie die meisten Künstler, während des Corona-bedingten Lockdowns nicht öffentlich auftreten können. Statt dessen spielte er zu Hause und übertrug seine Hauskonzerte täglich über Twitter. Ende Mai nahm er dann ein Album auf. Es steht ganz unter dem Eindruck dieses verordneten Rückzugs und der Einsamkeit des Künstlers, dem auf einmal Aufgabe und Publikum fehlten.

Der CD-Tipp zum Anhören:

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"Denn es gehet dem Menschen wie dem Vieh." Mit diesem Satz aus dem Alten Testament beginnt Johannes Brahms' Liederzyklus "Vier ernste Gesänge". Igor Levit spielt ihn auf seinem neuen Album "Encounter". In der Fassung für Klavier alleine von Max Reger. Levit, ein sehr nachdenklicher, sehr engagierter Pianist, hält es für angezeigt, auf den Vergleich mit der Vergänglichkeit der Tiere hinzuweisen. Denn Corona hat ihn noch nachdenklicher gemacht. Dazu hat sich der sehr eloquente Künstler in verschiedenen Interviews geäußert. In diesem Doppelalbum lässt er nun die Musik darüber sprechen, wie es einem Künstler ergeht, der auf einmal abgeschnitten ist von seinen Aufgaben und seinem Publikum.

Begegnung ist das Thema

Levit gibt zu hören, dass er sich in der geistlichen Musik wiedergefunden hat. "Schmücke Dich, o liebe Seele", ebenfalls von Brahms aus den Sechs Choralvorspielen, erklingt auf CD Nummer eins. Es geht um die Freude, welche die Seele aus der Begegnung mit Gott erfahren wird. Begegnung, auf Englisch "Encounter". So hat Levit das Album genannt, weil Begegnung das Thema ist – mit religiöser und innerweltlicher Transzendenz, wie es im Booklet heißt. Und letztlich: die Begegnung mit sich selbst. Sie führte ihn zu Kompositionen von Johann Sebastian Bach, Johannes Brahms, Max Reger und dem Amerikaner Morton Feldman. Zu Zyklen mit Choralvorspielen und Brahms' "Vier ernsten Gesängen", für Klavier arrangiert von Max Reger: in Konzerten höchst selten gespielte Werke, die der Auseinandersetzung mit Gott und mit der Endlichkeit gelten.

Kurz und bündig

Dieses Album berührt, weil ...
... Igor Levit klar und ohne Kompromiss eine Stimmung setzt: Einkehr, bei sich sein, Einsamkeit.

Dieses Album lädt ein zum ...
... Nachdenken darüber, welche Werte einem wirklich wichtig sind.

Dieses Album lohnt sich, weil ...
... es die Hörer mit wenig gespielten Stücken bekannt macht, die eine ganz persönliche Botschaft des Künstlers übermitteln.

Moll als Grundstimmung

"Ich ruf zu Dir, Herr Jesu Christ" – der Choral hat Johann Sebastian Bach zu Choralvorspielen und zu einer Kantate inspiriert. Diesen Gedanken mag so manch einer, eingeschlossen in der Wohnung, gedacht haben. Ferruccio Busoni hat Bachs Stück in seine Zehn Choralvorspiele aufgenommen – Levit spielt es mit reichem Klang, mit offenem Pedal, aber ohne Pathos. Die Musik scheint zu schweben, bleibt dabei klar, fein, durchhörbar. Durch diese schlichte Geste berührt sie ihre Hörer, erreicht sie als authentische Botschaft des Musikers. Moll ist die Grundstimmung des ganzen Albums, weiche, dunkle Farben. Stücke aus dem Programm spielte Levit auch in seinen Hauskonzerten, die er über Twitter mit seinem Publikum teilte. Sogar die Konzentration auf die extrem sparsame und zurückgenommene Musik Morton Feldmans in dessen 28-minütiger Komposition "Palais de Mari" forderte er ein. Auf Feldman, so berichtet Levit in einem Interview, seien übers Netz die emotionalsten Reaktionen gekommen.

Bewusst gebaute Dramaturgie

"Palais de Mari" von Morton Feldman steht am Ende dieses schwermütigen, grüblerischen Albums. Es schließt eine bewusst gebaute Dramaturgie, bei der Levit seine Hörer in einer "langsamen Rückzugsbewegung von außen nach innen" führt – so heißt es im Booklet. Jedes der Stücke darauf spielt Levit mit jener Deutlichkeit, mit der er die Töne bei Feldman formt. Die klare Sprache, die strengen Akkorde graben sich beim Hörer ein. Sie lassen ihn mitfühlen, diesen Rückzug, diesen Aufenthalt ohne Kontakte, wie ihn Igor Levit, wie ihn die meisten Künstler in den letzten Monaten durchlitten haben.

Igor Levit – "Encounter"

Johann Sebastian Bach (arr. Feruccio Busoni):
Choralvorspiele
Johannes Brahms (arr. Feruccio Busoni):
Choralvorspiele
Johannes Brahms (arr. Max Reger):
Vier ernste Gesänge
Max Reger (arr. Julian Becker):
Nachtlied
Morton Feldman:
Palais de Mari

Igor Levit (Klavier)

Label: Sony Classical

Sendung: "Piazza" am 19. September 2020, 08:05 Uhr auf BR-KLASSIK