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Kommentar - Kongresshalle wird Interims-Spielstätte für Nürnberger Oper Ein Ritt auf der Rasierklinge

Kann Kunst Kongresshalle? Die Nürnberger Oper soll bald auf dem Reichsparteitagsgelände ihre Interims-Spielstätte bekommen. Eine gewagte Entscheidung, meint BR-KLASSIK-Redakteurin Ursula Adamski-Störmer.

Bildquelle: Heiko Stahl

Da fällt dem Staatstheater Nürnberg nun wohl der berühmte Stein vom Herzen. Die Fraktionen CSU, SPD und Grüne haben ihr "Go!" gegeben. Wenn das Opernhaus am Richard-Wagner-Platz für die Generalsanierung spätestens 2025 geschlossen werden muss, findet Oper in Nürnberg bis auf weiteres auf dem Gelände der Kongresshalle statt. Wo genau, ob im Innenrund des größenwahnsinnigen Nazibau-Torsos oder außerhalb, das wird sich frühestens 2022 entscheiden.

Historisch vermintes Interim

Jetzt muss Nürnbergs Oper beweisen, was sie in der zuletzt leidenschaftlich und kontrovers geführten Debatte um dieses kontaminierte Interim immer wieder auf ihr Schild hob: Kunst kann Kongresshalle! Dort, wo das unfertige Baumonstrum Erinnerungskultur wirkmächtig spürbar macht, wo das Schäbige nicht allein Verfall ist, sondern gerade der Verfall, das Unfertige, das Gescheiterte beklemmendes Geschichtsbewußtsein in Hirn und Seele der jährlich 200.000 Besucherinnen und Besucher presst, Nachwelten erfahrbar macht – dort soll also nun zukünftig übergangsweise die Kunstfreiheit gefeiert werden, die die einstige Diktatur in Ketten legte. 

Welche Spielpläne sind angemessen für die Kongresshalle?

Doch was bedeutet eine solche musikalische "Nachnutzung" in der Praxis? Welche Folgen hat dieser historisch verminte neue "Spiel"ort für den "Spiel"plan? Wenig Wagner, oder überhaupt keiner, und stattdessen mehr Offenbach, Goldmark, Korngold oder Ullmann, also all jene Komponisten, die das NS Regime verbot, vertrieb oder ermordete? Reicht das aus? Oder ist das vielmehr nicht zu kurz gegriffen? Wieviel Vielfalt erlaubt ein solcher Standort, wieviel Freiheit erlaubt er der Kunst wirklich? Geht "Cosi fan tutte" oder "Der Freischütz" in einer solchen Umgebung, oder sollen wir uns alle mal lockermachen und einfach "nur spielen"?

Entscheidung aus Zeitnot

Das sind Fragen, die zukünftig die Spielpläne bestimmen müssen. In der Debatte um diesen Interimsstandort kamen solche Fragen lange Zeit viel zu kurz. Und sie kamen viel zu spät. Am Ende lief den Entscheidungsträgern schlicht die Zeit davon, die Wahl dieses Interims ist eben vor allem das: Opfer des zu lange auf die Bank Schiebens, Opfer der Zeitnot.

Ja, Nürnberg hat Jahrzehnte gebraucht, um zu einem sensiblen, selbst- und geschichtsbewußten Umgang mit seinem schweren, in Stein gegossenen Nazi-Erbe umzugehen. 2001 gelang mit dem dekonstruktivistischen Eingriff des Architekten Günther Domenig in die monumentale Architektur der Kongresshalle im Dokumentationszentrum ein exzeptionelles Beispiel. Wie ein Pfahl bohrt sich seither ein begehbarer Pfad aus Glas und Stahl in die monströse Architektur, bricht ihren Größenwahn auf. Was für ein kluges, klares architektonisches Statement! Welch ein permanenter Aufruf zur Auseinandersetzung!

Auseinandersetzung mit der Vergangenheit notwendig

Daran muss sich nun die Musik, die Oper, jedes einzelne philharmonische Konzert messen lassen, eine ganze Zwischennutzungsdauer lang. Es steht viel auf dem Spiel, weit mehr als nur Sekt und Pausenhäppchen, die dem ein oder anderen in dieser unwirtlichen Umgebung wohlmöglich im Halse stecken bleiben. Das Verstummen der historisch notwenigen Auseinandersetzung aber wäre das Letzte, was durch eine wagemutige Interimsnutzung passieren darf. Das Operninterim in der Kongresshalle: Ein Ritt auf der Rasierklinge – gewagt.

Sendung: "Leporello" am 9. Dezember 2021 ab 16:05 Uhr auf BR-KLASSIK