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Kritik - "Candide" an der Komischen Oper Berlin Ritter der Kokosnuss in Lederhosen

Optimisten waren Voltaire suspekt, deshalb schrieb er eine böse Satire über sie, und Leonard Bernstein machte daraus eine sarkastische, sperrige Operette. Barrie Kosky inszenierte sie an der Komischen Oper Berlin leider mit zuviel "heiligem Ernst".

"Candide" an der Komischen Oper Berlin | Bildquelle: © Monika Rittershaus/Komische Oper Berlin

Bildquelle: © Monika Rittershaus/Komische Oper Berlin

Ziemlich schwer, ein unterhaltsames Stück über einen Langweiler zu schreiben. Es könnte sogar sein, dass es sich um einen "kolossalen Langweiler" handelt, wie Regisseur Barrie Kosky völlig richtig im Programmheft bemerkt. Candide, der durch und durch fade Held von Voltaires gleichnamiger Gesellschaftssatire aus dem Jahr 1759, kommt aus Westfalen, was damals gleichbedeutend war mit tiefster Provinz. Von dort aus reist er durch die Welt, erlebt allerlei aufregende Abenteuer, bleibt dabei aber so einfältig und phlegmatisch, dass ihm am Ende nichts anderes einfällt, als einen Garten zu erwerben.

Versuch einer sarkastischen Operette

Hinterm Zaun fühlt er sich halt doch am wohlsten. Klar, eine Satire über die Beschränktheit der Menschen, über Leute, die sich unbedingt ihren Optimismus bewahren wollen, trotz Kriegen, Erdbeben, Folter, Mord und Gedankenpolizei. Der kühne Voltaire war von ätzender Schärfe, und Leonard Bernstein machte 1956 den Versuch, daraus eine ähnlich sarkastische Operette zu machen. Das ging schief, "Candide" wurde kein Erfolg, bis heute sind wesentlich mehr Inszenierungen gescheitert als gelungen.

Eine zähe, wenig inspirierte Angelegenheit

"Candide" an der Komischen Oper Berlin | Bildquelle: © Monika Rittershaus/Komische Oper Berlin Bildquelle: © Monika Rittershaus/Komische Oper Berlin Zuletzt landete Martin Berger vor einem Jahr in Weimar einen großen Coup und inszenierte eine messerscharfe, mitreißende Voltaire-Revue. Ähnliches war Musical-Profi Barrie Kosky an der Komischen Oper Berlin durchaus zuzutrauen, zumal er sich an der Textfassung von Martin Berger orientierte. Doch die gut drei Stunden wurde dann leider doch eine überwiegend zähe, wenig inspirierte Angelegenheit. Statt sich über Voltaire und Bernstein auch mal lustig zu machen, dieses grauslich öde Stück mit einem lethargischen Kleingeist als Hauptfigur gründlich durchzurütteln und möglichst grell zu bebildern, versuchte es Kosky mit heiligem Ernst. Auf der rabenschwarzen, überwiegend leeren Bühne von Ausstatterin Rebecca Ringst begegnet Candide Flüchtlingsbooten, muss zusehen, wie Juden und Migranten beim Autodafé unter der Aufsicht der Inquisition vom Maschinengewehr niedergemäht werden, sieht sich in Südamerika mit einem Knast und einem goldfunkelnden Eldorado konfrontiert, darf in einem schwer verschatteten Venedig seiner Melancholie nachhängen. Im Schlussbild wird gar pathetisch der Blaue Planet in die Höhe gehalten, wie bei einem Kirchentag - Voltaire, der alte Ketzer, hätte sich angewidert abgewendet, und ob Bernstein diese Art Öko-Erlösung goutiert hätte, sei dahin gestellt.

Klamaukige Bilder, herzlicher Beifall

Der Beifall am Ende war gleichwohl herzlich. Längst hat Barrie Kosky in Berlin eine treue Fangemeinde, die auch dann begeistert ist oder wirkt, wenn eine Produktion mal in Wiederholungen stecken bleibt. So ist auch Choreograph Otto Pichler diesmal nicht mehr eingefallen als das, was schon häufig für gute Laune sorgte - allerdings in besseren Stücken. Mussten es unbedingt wieder klamaukige Bilder mit Lederhose und Dirndl sein? Und wer findet einen affektiert kreischenden, offensichtlich tuntigen Gefängniswärter noch witzig? So hüpften die zwölf Tänzer diesmal eher pflichtbewusst als ausgelassen durch die Szenen. Plausibel wirkte das alles nicht, weder ironisch, noch bösartig, obwohl Voltaire doch gerade wegen dieser beiden Charakterzüge immer wieder Ärger mit der Justiz hatte. Behäbig schnurrte dieser Bernstein-Abend ab, schade, denn die Hauptdarsteller hätten sicher auch eine flottere Regie-Handschrift mitgetragen.

Mehr "Monthy Python"

Die inzwischen 63-jährige schwedische Mezzosopranistin Anne Sofie von Otter war als "Alte Frau" zu sehen, Franz Hawlata als österreichischer Voltaire mit Riesen-Perücke, die umtriebige Nicole Chevalier als tapfere Kunigunde, Allan Clayton als Candide. Er musste eine Art molliges Riesen-Baby geben, knuffig, aber eben auch von bestürzender Langeweile. Der im Programmheft versprochene Wandel vom Optimisten zum Zyniker wurde in keiner Weise augenfällig, obwohl er fleißig Leute umbringt und als "Ritter der Kokosnuss" laut klappernd durch den Dschungel reitet. Mit wesentlich mehr "Monty Python" hätte das durchaus funktionieren können. Einmal mehr zeigte sich, wie schwer sich Sänger damit tun, glaubwürdig zu sprechen. Da war Tom Erik Lie als pessimistischer Straßenkehrer Martin eine rühmliche Ausnahme. Er rockte mit seinem kurzen Auftritt den Saal.

Lust an der Pointe

Die kreative Hauptlast des Abends hatte Kostümdesigner Klaus Bruns zu tragen, der es mit seine Ideen im Alleingang schaffte, bei dieser ausufernden Weltreise die jeweils gewünschte Nationalfarbe auf die Bühne zu bringen: Eine ganze Phalanx von Sombreros und zigarrenpaffende Machos für Uruguay, reichlich Goldlamé für das verzückte Volk im sagenhaften Eldorado, raue Krieger für Bulgarien, weiße Clowns für den Karneval von Venedig, zickige Domestiken auf hohen Absätzen für das muffige Westfalen. Der junge kanadische Dirigent Jordan de Souza machte seine Sache sehr gut. Musikalisch swingte diese "Candide"-Premiere, da war Bernsteins unbändige Lust an der Pointe jederzeit zu hören. Herrlich, wie der Komponist mit getragenen Hymnen und kecken Zoten spielt, munter das Heldische mit dem Kleinkarierten, das Erotische mit dem Spießigen vermischt. Für musikalische Leiter mit einem Sinn für Humor ein weites und lohnendes Betätigungsfeld.

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