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Kritik – "Die Vögel" an der Bayerischen Staatsoper in München Castorf macht's vogelwild

Vor fast genau 100 Jahren wurden "Die Vögel" von Walter Braunfels an der Bayerischen Staatsoper in München uraufgeführt. Nun inszeniert Frank Castorf das Stück im gleichen Haus als wildes Assoziationsspiel neu. Das ist teils interessant, teils bloß albern.

Bildquelle: Wilfried Hösl

Treffen sich ein SS-Offizier mit Hakenkreuzarmbinde, eine Burlesque-Tänzerin mit Federmaske und ein Alkoholiker mit Paillettenanzug – so könnte ein fragwürdiger Stammtischwitz beginnen. In diesem Fall ist diese skurrile Familienaufstellung aber kein Witz, sondern eine ziemlich treffende Beschreibung von Frank Castorfs Inszenierung von "Die Vögel" an der Bayerischen Staatsoper in München. Fragwürdig blieb hier trotzdem einiges.

Mehr Vögel auf der Bühne als Menschen im Publikum

Dabei war das Setting klar: Die Oper von Walter Braunfels erlebte vor ziemlich genau 100 Jahren ihre Uraufführung an der Staatsoper in München, Ende November 1920. Nun kehrt sie zurück, kurz vor dem "Lockdown light", vor nur 50 Zuschauerinnen und Zuschauern im Saal und einigen mehr im Livestream. Der Oper liegt die antike Komödie "Die Vögel" von Aristophanes zu Grunde, fast 2.500 Jahre alt, entstanden als Kritik an den ambitionierten Expansionsbestrebungen Athens.

Das Stück warnt vor der ewigen menschlichen Überheblichkeit und weil die auch in der Neuzeit nicht ausgestorben zu sein scheint, funktioniert die Handlung 400 v. Chr. wie 1920 und 2020: Zwei Menschen, Ratefreund und Hoffegut, sind das Leben als Bohemiens in der langweiligen Großstadt leid. Aristophanes meint: Athen, Braunfels meint: München-Schwabing. Sie stacheln also die Vögel an, eine eigene Stadt im Himmel, das sprichwörtliche Wolkenkuckucksheim, zu bauen, mit der sich die Federviecher zu Herrschern über Götter und Menschen machen können. Die folgen dem Plan im Blindflug, schließlich intervenieren die olympischen Götter, was recht gut (Braunfels) bzw. schlecht (Aristophanes) funktioniert.

Castorf hält sich nicht mit Interpretationen auf

Achja, auch Marx muss zum Zitat herhalten. (Szene aus "Die Vögel" an der Bayerischen Staatsoper in München) | Bildquelle: Wilfried Hösl Die Wurzeln im altgriechischen Theater merkt man noch bei Castorf, denn oft fällt auch ihm nichts Besseres ein, als die Sängerinnen und Sänger wie im Amphitheater zur Deklamation an die Rampe zu stellen. Natürlich sieht dazu typisch für den Regisseur und seinen Bühnenbildner Aleksandar Denić alles ein bisschen nach Hinterhofhölle aus: ein Container steht herum, irgendwo brennt ein Ölfass, drumherum glitzert der Vogelchor (gelungene Kostüme: Adriana Braga Peretzki). Das Regieteam hält sich nicht mit so etwas wie einer inhaltlichen Ausdeutung der Vorlage auf. Stattdessen scheint Castorf seinen Gedanken zum Text einfach gefolgt zu sein, egal welche wilden Wege diese einschlagen.

Und so lässt Castorf keine Assoziation zu "Die Vögel" aus, angefangen mit dem berühmten Film. Der hat zwar nichts mit Aristophanes und Braunfels zu tun, trotzdem laufen Filmsequenzen im Hintergrund, Rabenmassen sitzen auf Stromleitungen und ein riesiges Hitchcock-Foto steht herum. Daneben hängen Konzertplakate für "The Byrds" und "The Eagles", zur Vogelhochzeit klemmt man sich bemalte Eier unter die Achseln und ein paar ausgestopfte Flattermänner müssen auch als Requisite herhalten. Ach, und dann gibt es ja noch eine Assoziation zu "Vögeln" – genau das findet dann auch minutenlang auf der Bühne statt.

Zwischendurch verpacken sich die Vögel in Plastikfolie, eine Glitzertotenkopftänzerin räkelt sich vor einem Raubkunstgemälde und Prometheus tritt als Techno-Weihnachtsmann auf. Das ist alles ziemlich verrückt, manchmal irgendwie interessant, oft aber auch einfach albern. Dabei gibt es starke Bilder, in erster Linie sind die aber in den Live-Videos zu sehen, die unter anderem auf einer riesigen Satellitenschüssel laufen: Es sind starke Nahaufnahmen und schöne Details (Live-Schnitt: Timo Raddatz), gegen die die "Totale", die das Publikum von der Bühne präsentiert bekommt, doch oft verliert.

Metzmacher machts

Besonders betörend: Caroline Wettergreen als Nachtigall in "Die Vögel" an der Bayerischen Staatsoper | Bildquelle: Wilfried Hösl Dass die Inszenierung dennoch ein Erlebnis ist, liegt besonders am Bayerischen Staatsorchester unter Ingo Metzmacher. Die Musiker und Musikerinnen nehmen die Musik von Walter Braunfels ernst, die oft nach Strauss' Spätromantik klingt, in den Chorszenen auch nach Wagners Pathos-Bombast. So donnert das Staatsorchester mal gewaltig zum Zorn des Zeus, dann klingt es wieder wunderbar süßlich aus dem offenen Orchestergraben. Das ist besonders mit Caroline Wettergreen als Nachtigall im tollen Federkleid eine betörende Mischung, denn Wettergreen singt so herzerweichend, dass sich der Besuch schon allein für den von ihr gesungenen Prolog lohnt. Daneben gibt Michael Nagy einen so überzeugenden Nazi-Ratefreund, dass er problemlos Christoph Waltz in "Inglourious Basterds" doubeln könnte. Bei Charles Workman hört man Hoffeguts Hoffnungen tatsächlich in seinem Tenor und Wolfgang Koch gibt einen herrlich grolligen Prometheus.

Keine Buh-Rufe für Castorf

Diese Mischung aus sehr guter Musik und abgedrehter Inszenierung gäbe genug Gelegenheit für ausführliche Après-Opern-Diskussionen – die müssen nun wegen des deutschen Veranstaltungsverbotes zunächst ausfallen. Auch Buh-Rufe gab es, untypisch für eine Castorf-Inszenierung, im fatalistisch gestimmten 50-Kopf-großen Publikum keine. Immerhin bietet die Staatsoper die neue Inszenierung aber als Video-on-Demand an. Diskutieren und Buh rufen kann man ja immerhin auch mit nur zwei Haushalten auf der Couch.

Die Vögel zum Sehen und Hören

Die Bayerische Staatsoper bietet "Die Vögel" ab dem 5. November um 19:00 Uhr einen Monat lang als Video-on-Demand auf www.staatsoper.tv an.

Sendung: "Allegro" am 2. November 2020 ab 06:05 Uhr auf BR-KLASSIK