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Diversität in Orchestern Deutschland hinkt hinterher

Unsere Gesellschaft ist vielfältig. Doch Orchester in Deutschland spiegeln diese Diversität noch nicht wider, kritisiert André Uelner, Agent für Diversitätsentwicklung. Woran das liegt und warum eine Quote ein geeigneter Weg sein kann.

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BR-KLASSIK: Herr Uelner, wie divers sind Orchester in Deutschland momentan, im Vergleich zur Gesellschaft?

André Uelner: Wenn man sich anschaut, wohin sich die Bevölkerung entwickeln wird, dann ist ganz klar zu sehen, dass wir auf eine sehr diverse Gesellschaft zusteuern. Je jünger die Alterskohorten werden, desto höher wird der Anteil von Menschen mit Migrationshintergrund. Orchester haben aber einen sehr engen Kunst- und Werkbegriff, rekurrieren sich überwiegend aus sich selbst heraus. Dadurch wird diese gesellschaftliche Diversifizierung nicht mitgenommen. Und das wird in zehn, zwanzig Jahren substanzielle Fragen aufwerfen.

BR-KLASSIK: In Bezug auf die Relevanz der Klangkörper?

André Uelner | Bildquelle: Sarah Hähnle Der studierte Sänger André Uelner ist Agent für Diversitätsentwicklung bei der Deutschen Staatsphilharmonie Rheinland-Pfalz. | Bildquelle: Sarah Hähnle André Uelner: Ja. Gestern auf dem Deutschen Orchestertag in Berlin hat Mark Pemberton von der Association of British Orchestras nochmal sehr eindrucksvoll aufgezeigt, wo das Thema Diversität im Moment in England steht. Der British Arts Council, der in Großbritannien über die Vergabe von Kulturgeldern entscheidet, hat den Kulturinstitutionen Vorgaben gegeben. Orchester sind angehalten, sich bis spätestens 2030 zu diversifizieren. Und wenn ihnen das nicht gelingt, werden ihnen einfach die Gelder gestrichen. Ich glaube, dass das perspektivisch in Deutschland auch passieren wird, auch vor dem Hintergrund, dass auch die Zusammensetzung der Gremien, die über Kulturgelder entscheiden, diverser wird. Wenn in den Gremien in zehn, zwanzig Jahren zunehmend Menschen sitzen, die keine Nähe mehr zu klassischer Musik haben, dann steht natürlich die Frage im Raum: Welche Institutionen werden dann gefördert?

BR-KLASSIK: Welche Methoden würden sich eignen, um mehr Diversität in das Orchestermanagement, in die Konzertprogramme und ins Publikum zu bringen?

André Uelner: Ich glaube mittlerweile, dass eigentlich nur noch Quoten helfen werden. Welche Komponisten und Komponistinnen werden gespielt? Wie hoch ist der Anteil von Komponistinnen? Wie hoch ist die Quote von Komponistinnen oder Komponisten aus bestimmten Herkunftsländern oder mit bestimmten kulturellen Hintergründen? Woher kommen die Dirigenten und die Dirigentinnen? Ich habe gelesen, dass US-amerikanische Orchester mittlerweile den Anteil von Komponistinnen, die gespielt werden, auf 13 Prozent erhöht haben. Vor vier Jahren waren es, glaube ich, noch zwei Prozent.

BR-KLASSIK: Ist die Kulturpolitik in den angloamerikanischen Ländern also weiter als wir in Deutschland?

André Uelner: Absolut. Man kann sagen, dass die Diversitätsentwicklung im angloamerikanischen Raum so zehn, fünfzehn, vielleicht sogar zwanzig Jahre voraus ist.

Die Diversitätsentwicklung im angloamerikanischen Raum ist uns Jahre voraus.
André Uelner

BR-KLASSIK: Sie sagen, dass es ohne Quote nicht gehen wird. Woran scheitert es denn? Gibt es Vorbehalte gegenüber Diversität im Orchester?

Menschenmenge von oben | Bildquelle: stock.adobe.com Einige gesellschaftliche Gruppen sind in deutschen Kulturorchestern so gut wie nicht vertreten. | Bildquelle: stock.adobe.com André Uelner: Es geht ja nicht nur darum, wen ein Orchester zum Probespiel einlädt, sondern wie divers überhaupt schon die Bewerber*innen-Lage ist. Die Deutsche Staatsphilharmonie Rheinland-Pfalz ist im urbanen Raum Mannheim-Ludwigshafen verortet. Dort leben knapp 477.000 Menschen. Wir haben alleine 45.000 türkeistämmige Menschen und nochmal knapp drei bis fünf Prozent Menschen mit einer Herkunftsgeschichte aus einem Land des Nahen und Mittleren Ostens. Diese Menschen sind aber in den drei Orchestern des urbanen Raums überhaupt nicht vertreten. In einer Studie haben wir uns mal die gesamte Orchesterlandschaft in Deutschland angeschaut, alle 9.766 Planstellen der 129 Orchester. Wir haben geguckt, wo es Menschen mit dieser Herkunftsgeschichte gibt. Insgesamt haben wir 62 Personen gefunden und davon auch nur vier, die in Deutschland geboren sind. Das macht eine Quote von 0,63 Prozent aus. Es geht schon bei der Anbahnung los: Welche Kinder kommen überhaupt mit klassischer Musik in Berührung? Auch der Stellenwert von Musikunterricht in den allgemeinbildenden Schulen spielt eine Rolle. Es fehlen allein im Grundschulbereich bundesweit 23.000 Musiklehrerinnen. Man sieht also, dass das Fach Musik in den Hintergrund tritt und dass auch im Fach Musik die klassische Musik immer mehr in den Hintergrund tritt. Lehrer*innen sitzen zunehmend vor Klassen mit allen möglichen diversen Hintergründen und Musikkulturen. Dafür sind die Lehrer*innen aber überhaupt nicht ausgebildet und wissen gar nicht, wie sie damit umgehen sollen.

Lehrer*innen sitzen zunehmend vor Klassen mit allen möglichen diversen Hintergründen und Musikkulturen.
André Uelner

BR-KLASSIK: Es gibt aber an den deutschen Musikhochschulen viele Studierende aus anderen Ländern. Bleibt denn diese Internationalität nicht erhalten?

André Uelner: Da es mehr Absolvent*innen an deutschen Musikhochschulen gibt als freie Stellen im Orchester, wird suggeriert, dass es kein Nachwuchsproblem gibt. Aber dieser Nachwuchs rekurriert sich eben nicht analog zur Zusammensetzung der Gesellschaft in Deutschland. Es gibt einfach Bevölkerungsgruppen mit einer Herkunftsgeschichte, die nicht in den Orchestern vertreten sind, die aber einen immer größeren Anteil der Bevölkerung einnehmen. Ich glaube, man muss sich perspektivisch auch darüber Gedanken machen, wie eine neue zeitgenössische Musik vor dem Hintergrund einer diversen Gesellschaft aussieht. Ob man den Werkekanon, der sich jetzt aus den letzten 250 Jahren rekurriert, auch hinsichtlich anderer Musikkulturen öffnen muss. Darin liegt ja auch eine Chance, musikalische Techniken wiederzuentdecken, die in unserer eigenen mitteleuropäischen Musikgeschichte spätestens nach der Klassik in den Hintergrund getreten sind. Die Improvisation zum Beispiel.

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BR-KLASSIK: Die klassische Musik war ja immer eine Musik für die Elite. Sie ist für die Elite entstanden und wurde von der Elite finanziert. Und Sie sagen: Eigentlich müsste die Klassik wieder populärer werden, wieder mehr wirklich in der Gesellschaft verankert werden?

André Uelner: Genau, mit Blick auf die demografischen Daten. Der größte Teil des Publikums kommt aus der Mittelschicht. Aber im Vergleich zu anderen Industrieländern schrumpft in Deutschland die Mittelschicht am stärksten. Es dauert bis zu sechs Generationen, um aus der Unterschicht in die Mittelschicht aufzusteigen. Im Vergleich dazu dauert es in Dänemark beispielsweise nur zwei Generationen. Die Frage ist also auch, wie sich die Mittelschicht in Deutschland auch perspektivisch zusammensetzen wird. Und welche Interessen diese Mittelschicht hat. Ich glaube, dass sich der Kulturbegriff weiten wird oder das Verständnis von Kultur. Ich habe selber zwei Kinder im Kindergartenalter. Und mir ist bewusst geworden, dass meine Kinder später als Erwachsene in einer ganz anderen Gesellschaft leben werden als das für mich der Fall ist.

Ich glaube, dass sich der Kulturbegriff weiten wird.
André Uelner

BR-KLASSIK: Es gilt also jetzt, die Weichen zu stellen für die Zukunft?

André Uelner: So ist es. Angenommen, es wird in fünfzehn Jahren ähnlich wie in England gesagt: Ihr habt zehn Jahre Zeit, euch zu diversifizieren. Dann bemüht man sich, einen diverseren Nachwuchs zu generieren. Aber es wird dann noch mal fünfzehn bis zwanzig Jahre dauern, bis diese Kinder so qualifiziert auf ihrem Instrument sind, dass sie sich überhaupt auf eine Stelle bewerben können. Die Frage ist: Was passiert in dieser Übergangszeit? Wird es dann immer noch 129 Orchester geben oder eben nicht?

BR-KLASSIK: Müsste man zum Thema Diversität in den Orchestern mehr aufklären?

André Uelner: Tja, das ist ein recht komplexes Thema. Einerseits gibt es sehr gute Arbeitsbedingungen in Orchestern. Gleichzeitig entsteht dadurch aber auch seine Sicherheit und - ich nenne es jetzt mal böse - auch eine gewisse Bequemlichkeit. Wenn ich als Agent für Diversitätsentwicklung mit Programmen auf Kolleg*innen in meinem Orchester zugehe, der Deutschen Staatsphilharmonie Rheinland-Pfalz, dann ist die Beteiligung in der Regeln recht überschaubar. Dabei arbeite ich für ein vergleichsweise offenes Orchester.

BR-KLASSIK: Ich verstehe. Sind die gut ausgebildeten Akademiker*innen im Orchester zu sehr in ihrer Blase?

Der Betrachter steht hinter dem Orchester und schaut über die Musikerinnen und Musiker hinweg auf den Dirigenten Sir Simon Rattle, der gerade mit dem Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks probt. | Bildquelle: Astrid Ackermann Viele Orchestermusiker*innen haben Eltern, die selbst im Orchester gespielt haben. | Bildquelle: Astrid Ackermann André Uelner: Absolut. Ich selbst habe Gesang studiert, und es war für mich neu zu lernen, dass doch ein relativ großer Teil von Orchestermusikern Eltern hat, die bereits im Orchester gearbeitet haben. Sie wurden sehr früh an diese Welt herangeführt. Diesen Vorsprung kann man später nur sehr schwer ausgleichen. Ein Kind, das mit 15 Jahren anfangen möchte, Geige zu lernen, ist einfach zehn Jahre zu spät dran.

BR-KLASSIK: Sie haben beim Deutschen Orchestertag einen Workshop zum Thema "Diversität in Orchestern" geleitet. Hatten Sie das Gefühl, dass Sie die Teilnehmenden für dieses Thema sensibilisieren konnten?

André Uelner: Sagen wir es mal so: Sie haben aufmerksam zugehört. Aber der nächste nötige Schritt wäre, dass man nicht über die spricht, die man erreichen möchte, sondern mit ihnen. Es lohnt sich, mit Menschen, die man vielleicht nicht in der Konzertpause im Foyer trifft, ins Gespräch zu kommen, um zu verstehen: Warum kommt ihr denn nicht?

BR-KLASSIK: Ganz herzlichen Dank für das Gespräch, Herr Uelner!

Das Interview führte Julia Schölzel für BR-KLASSIK

Sendung: "Leporello" am 2. Mai 2022 ab 16:05 Uhr auf BR-KLASSIK

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Dienstag, 31.Mai, 11:32 Uhr

Joachim Werra

Diversity-Unsinn

Es gibt auch in der Türkei Sinfonieorchester, die klassisch-romantisches Repertoire spielen. Dies beweist die Überlegenheit unserer westlichen Kultur! Niemand will in einem Sinfoniekonzert quäkende Instrumente aus dem nahöstlichen Raum oder gar Minarettgeplärre hören!

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