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Dreizehn Jahre Intendanz Nikolaus Bachler "Der wendende Punkt"

Nach 13 Jahren verlässt Staatsintendant Nikolaus Bachler die Bayerische Staatsoper in München. Vier Dirigenten und 17 internationale Sängerstars bereiten ihm eine rauschende Abschiedsgala. Und der scheidende Intendant rezitiert Rainer Maria Rilke und Ingeborg Bachmann. Immerhin tausend Menschen dürfen am 30. Juli das Nationaltheater zur Hälfte füllen – und draußen auf dem Marstallplatz gibt‘s das Ganze auf der großen Leinwand gratis für weitere 1500 Opernfans.

Ein schmaler roter Teppich samt goldenem Geländer schmückt die große Treppe des Münchner Nationaltheaters am Max-Joseph-Platz. Nur geht da kaum jemand, denn oben wartet ein Fotograf – und ein Portrait mit Mund-Nasen-Schutz ist nur ein halbes Vergnügen. Prominenz ist unter diesen Umständen schwer auszumachen. Aber man hat sich in Schale geworfen. Die FFP-2-Masken der Damen sind mehrheitlich auf die Farbe des jeweiligen Kleids abgestimmt, bei den Herren dominieren Weiß und Schwarz.

Abschiedsgala als Gesamtkunstwerk

Kent Nagano, das mag viele überrascht haben, erweist Nikolaus Bachler zum Abschied die Ehre. Fünf Jahre lang war er unter Bachler Generalmusikdirektor, vor acht Jahren ist man im Streit geschieden, verstanden hat man sich nie. Nagano wird vom Publikum geradezu enthusiastisch begrüßt und eröffnet den musikalischen Reigen, der auch optisch Akzente setzt – mit allerhand Requisiten auf der Bühne, mit Lichtspielen und mit riesigen Videoprojektionen. Ob letztere (mit Blicken hinter die Kulissen und in die Werkstätten der Staatsoper) beim Rheingold-Vorspiel nicht doch sehr ablenken, ist zumindest diskussionswürdig. Aber dann folgt ein starker Auftritt auf den anderen – und das nicht nur mit den üblichen musikalischen Reißern. Vokal überzeugend und mit sparsamer Mimik und Gestik zeichnet Anne Schwanewilms das Portrait der Madame Lidoine aus Francis Poulencs "Dialogen der Karmelitinnen". Elina Garanca singt eine furiose Léonor aus Donizettis "Favorite". Pavol Breslik ist Rusalkas Prinz, und Diana Damrau gibt die Figaro-Gräfin. Und dann geschieht Faszinierendes: nur mit Hilfe der Arien und ein bisschen Bühnenzutat (wie dem Wasserbecken mit dem weißen Brautkleid der Rusalka oder dem üppigen Kostüm der Damrau) werden die verschiedenen Inszenierungen lebendig.

Magische Momente

Marlis Petersen | Bildquelle: Wilfried Hösl Ein paar gelungene Übergänge gehören zu den schönsten Momenten dieses mehr als dreistündigen Abends: nach seinem "Wahn"-Monolog aus den "Meistersingern" klopft Hans Sachs alias Wolfgang Koch an seine mobile Schusterwerkstatt, in der anscheinend Marlis Petersen übernachtet hat. Die räkelt sich erst ein wenig, bekommt von Hans Sachs den Kopf des Jochanaan überreicht, schlüpft in ihre roten Pumps und ist dann bereit für Salomes vokalen Ritt in den Wahnsinn. Nach der von Ermonela Jaho überragend gesungenen Romanze der Suor Angelica schwebt in drei vergitterten Käfigen ein Streichquartett vom Himmel und stimmt mit nie gehörter Zartheit den dritten Satz aus Beethovens op. 132 an, um schließlich langsam wieder im Schnürboden zu verschwinden. Magische Minuten!

Anna Netrebko musste kurzfristig absagen – "wegen der erschwerten Reisebedingungen". Dafür ist Günther Groissböck mit von der Partie, der gerade nicht weiß, ob der Wotan die geeignete Rolle für ihn ist. Der Wassermann in Dvoraks "Rusalka" liegt ihm perfekt in der Kehle. Nina Stemme schießt immer noch elektrisierende Leuchtraketen der Marke Isolde ins Nationaltheater. Und Jonas Kaufmann darf mit seinem Andrea Chénier zeigen, wo er – trotz seiner Erfolge im deutschen Fach – vielleicht doch am allerstärksten ist: im italienischen Verismo.

"Errichtet keinen Denkstein."

Immer wieder setzt sich Nikolaus Bachler selbst auf die Bühne und bindet mit Ingeborg Bachmanns "Gestundeter Zeit" sowie den Orpheus-Sonetten von Rainer Maria Rilke den Abend zusammen. Sehr zurückhaltend macht er das – fast zu beiläufig. Vielleicht um ja kein Pathos aufkommen zu lassen.

Nikolaus Bachler rezitiert Rainer Maria Rilke und Ingeborg Bachmann | Bildquelle: Wilfried Hösl
"Errichtet keinen Denkstein. Lasst die Rose
nur jedes Jahr zu seinen Gunsten blühn. (…)

O wie er schwinden muss, dass ihrs begrifft!
Und wenn ihm selbst auch bangte, dass er schwände.
Indem sein Wort das Hiersein übertrifft,

ist er schon dort, wohin ihrs nicht begleitet.
Der Leier Gitter zwängt ihm nicht die Hände.
Und er gehorcht indem er überschreitet."

Rrgreifendes Finale mit Schubert 

Eine theatralische Note bekommt die Veranstaltung bereits kurz nach Beginn, als Georg Zeppenfeld sich nach dem Schlussmonolog aus der "Schweigsamen Frau" auf den Boden legt, den Kopf auf sein Sakko gebettet. Die Bühnenmaschinerie sorgt anschließend, zum Erschrecken der Zuhörer, für Sir Morosus‘ Fahrt in den Untergrund. Kirill Petrenko, Ivor Bolton und Asher Fish komplettieren das differenziert agierende Dirigentenquartett. Anja Harteros ist nicht dabei, da sie sich auf ihre Isolde am nächsten Tag konzentrieren möchte. Sonst fehlt nur noch Giuseppe Verdi ...

Für das sehr ernste, aber ergreifende Finale sind Christian Gerhaher, Gerold Huber und Franz Schubert zuständig. Die düsteren Mollklänge werden trotzdem bejubelt, denn das Publikum weiß: So viel vokale Pracht für so wenig Geld kommt so schnell nicht wieder. Ein Fest der Stimmen - und ein würdiger Abschied!

Sendung: "Allegro" am 29. Juli 2021 ab 06:05 Uhr auf BR-KLASSIK