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Wie sich Kinderstimmen gesund entwickeln Raus aus der Bruststimmfalle!

Hell und glasklar - so klingen Kinderstimmen. Meistens. Aber auch chronische Heiserkeit und funktionelle Stimmstörungen sind bei Kindern keine Seltenheit. Die Wurzeln liegen oft beim frühen Singen in der Krippe oder im Kindergarten.

Stimmumfang von Kinderstimmen | Bildquelle: Nadja Pfeiffer/BR

Bildquelle: Nadja Pfeiffer/BR

"Erwachsene tendieren dazu, in zu tiefer Lage mit den Kindern zu singen", sagt Andreas Mohr, Professor für Kinderstimmbildung in Osnabrück. Seit Jahrzehnten beschäftigt er sich mit den Besonderheiten der Kinderstimme. Schon rein anatomisch unterscheidet sie sich von der eines Erwachsenen: Bei Kindern sind die Stimmlippen kürzer – die Stimme klingt höher. "Deswegen ist die richtige Singlage für Kinder einfach etwas höher als die von Erwachsenen angestrebte Singlage", erklärt Mohr.

Schon im Kindergarten: Plärriger verbrusteter Klang

Singen Kinder in tiefer Lage, benutzen sie automatisch die sogenannte Bruststimme. Mit diesem Stimmregister lassen sich tiefe, laute Töne erzeugen. Für hohe Töne brauchen wir die sogenannte Kopfstimme. Die klingt vom Stimmvolumen her auch etwas schlanker. Für das Singen sind beide Stimmregister wichtig – und der Übergang dazwischen. Singen Kinder immer nur mit der Bruststimme, ist das auf Dauer nicht gut.

So kann sich der Stimmumfang nicht vollständig entwickeln.
Andreas Mohr, Professor für Kinderstimmbildung

Kinder sollten auch ihre Kopfstimme trainieren. Passiert das nicht, droht sie zu verkümmern, sagt Mohr: "Die Kinder verlieren dann die Einstellung für die höheren Töne. Sie wissen nicht mehr, wie das geht und singen nur noch in der tiefen Lage." Das Problem liegt auf der Hand: "So kann sich der Stimmumfang nicht vollständig entwickeln."

Besonders kritisch sieht es Andreas Mohr, wenn die Lieder auch noch durch Begleitinstrumente sehr stark rhythmisch untermauert werden: Das verleitet die Kinder zusätzlich zum "Plärren". Rockmusik sei deshalb Gift für die Kinderstimme: "Wegen der Brutalität der Tonerzeugung", so Mohr. Ein lauter, plärriger Klang sei häufig schon im Kindergarten zu beobachten.

Mögliche Folgen: Stimmschäden

Bruststimme von Kinderstimmen | Bildquelle: Nadja Pfeiffer/BR Kinder benutzen heute oft ausschließlich die Bruststimme. | Bildquelle: Nadja Pfeiffer/BR Singen in tiefer Lage kann die Kinderstimme außerdem auf Dauer auch schädigen. Michael Fuchs vom Universitätsklinikum Leipzig ist Spezialist für die Behandlung von Kinderstimmen und warnt: "Das ausschließliche Benutzen des Bruststimmregisters kann auch dazu führen, dass die Sprechstimme oft mit viel zu viel Kraft in der tiefen Lage belastet wird", erklärt Fuchs. "Und das kann bei gar nicht so wenigen Kindern dazu führen, dass diese kleinen Stimmlippen in ihrer anatomischen Struktur einfach irgendwann mechanisch überfordert sind."

Dadurch kann es zu Stimmstörungen kommen. Die empfindliche Haut auf den Stimmlippen bekommt Blasen. "Die reagiert ähnlich wie eine Haut am Fuß, wenn wir zu enge Schuhe tragen", so Fuchs. Es bilden sich wasserförmige Einlagerungen, die sich später in Bindegewebe umwandeln. Das heißt, es bilden sich Stimmlippenknötchen: "Und das ist die fleischgewordene Funktionsstörung."

Die kleinen Stimmlippen sind irgendwann mechanisch überfordert.
Michael Fuchs, Stimmarzt am Universitätsklinikum Leipzig

Raus aus der Bruststimmfalle!

Damit es gar nicht erst so weit kommt, empfiehlt Paul Nitsche, der große Pionier der Kinderstimmbildung im 20. Jahrhundert, mit Kindern in der sogenannten "guten Lage" zu singen. Das ist der Tonumfang zwischen f1 und f2 – für Erwachsene oft ungewohnt hoch, für Kinder zwischen sieben und zehn Jahren aber genau richtig, sagt Andreas Mohr: "Wenn wir in dieser Lage mit Kindern singen, werden sie nicht verführt, das Brustregister zu isolieren." Mohr nennt das die sogenannte "Bruststimmfalle". Hat sich ein Kind erst mal in der tiefen Lage festgesungen, braucht es Übung, um das Kopfstimmregister wieder nutzen zu können. Bei der "guten Lage" entsteht das Problem gar nicht erst: Hohe Töne wie das f2 können nur mit dem Kopfregister gesungen werden.

Tipp an Erzieher: auf die Kinder hören!

Sorgsamer Umgang mit Kinderstimmen | Bildquelle: Nadja Pfeiffer/BR Mit Kinderstimmen muss sorgsam umgegangen werden. | Bildquelle: Nadja Pfeiffer/BR Für das Singen in der Krippe empfiehlt Andreas Mohr sogar einen noch engeren Tonumfang: "nicht tiefer als e1 und nicht höher als d2". Denn bei den ganz Kleinen sei der Stimmumfang noch nicht so groß wie bei älteren Kindern. Deshalb sei es auch kein Zufall, dass viele Kinderlieder nur einen Umfang von fünf oder sechs Tönen haben, erklärt Mohr: "Hänschen klein" zum Beispiel oder "Alle meine Entchen". Der vollständige Stimmumfang steht Kindern übrigens erst ab etwa 12 oder 13 Jahren zur Verfügung. Bis dahin sollte man vorsichtig sein.

Man braucht keine Spezialausbildung, um mit Kindern zu singen.
Andreas Mohr, Professor für Kinderstimmbildung

Trotzdem will Andreas Mohr Eltern, Erziehern und Lehrerinnen Mut machen, mit den Kindern zu singen. "Man braucht keine Spezialausbildung dafür", so Mohr. "Es wäre am allerbesten, die Erwachsenen würden einfach zuhören, wie Kinder, wenn sie ganz alleine sind, ihre Stimme benutzen." Fällt einem Erwachsenen das Singen in hoher Lage dennoch schwer, sollte er auch in der tieferen Lage darauf achten, eher etwas leiser und locker zu singen. Denn die Kinder imitieren den Klang.

Wandelbares Kindergehirn

Singen ist für Kinder und ihre Entwicklung sehr wichtig. Und je früher sie damit anfangen, desto besser. "Das Singen ist eigentlich ein Vortraining der Sprache und des Spracherwerbs", sagt Eckart Altenmüller, Neurologe und Musikermediziner in Hannover. Sogar das Schreien der Babys sei bereits von "Melodiekonturen" geprägt.

Das kindliche Gehirn funktioniert anders als das von Erwachsenen. Beispielsweise sind in den ersten Lebensjahren die Areale, die für Sprache und Singen zuständig sind, noch nicht getrennt, sondern identisch. "Und zwar sind die doppelt angelegt - in der linken und in der rechten Hirnhälfte", so Altenmüller. Erst ab einem Alter von etwa acht bis zehn Jahren vollzieht sich die Trennung, wie man sie auch bei Erwachsenen findet: Sprachverarbeitung links, Erkennung von Melodien rechts. Diese frühe Gleichschaltung hat einen großen Vorteil, erklärt Altenmüller: "Kinder, die aus irgendeinem Grund eine Schädigung der linken Hirnhälfte vor dem Alter von sechs Jahren erwerben, können so eigentlich noch vollkommene Sprachkompetenz und vollkommene Musikkompetenz behalten."

Kinder, die singen, können besser Emotionen von anderen Menschen erfassen.
Eckart Altenmüller, Neurologe und Musikermediziner in Hannover

Singen ist für Kinder von Anfang an natürlich | Bildquelle: Nadja Pfeiffer/BR Singen ist das Vortraining der Sprache. | Bildquelle: Nadja Pfeiffer/BR Beim Singen ist im Gehirn eine Menge los. Neben der Steuerung der Atmung, des Kehlkopfes und des gesamten Rachen- und Mundbereichs sind auch die Hörregionen im Schläfenlappen aktiv. Außerdem aber auch die Emotionszentren und - beim gemeinsamen Singen im Chor - auch die sozialen Verknüpfungen im Gehirn. "Die programmieren dann unsere Einordnung in die Gruppe und unsere Wahrnehmung in der Gruppe", so Altenmüller.

Macht Singen schlau?

Das Thema Emotion ist besonders wichtig. Denn über die menschliche Stimme teilen sich Gefühle ganz unmittelbar mit. Und das nehmen Kinder schon sehr früh war. "Kinder, die singen, können schneller und präziser Emotionen von anderen Menschen erfassen", sagt Altenmüller. "Das ist ein Teil der emotionalen Kompetenz." Das Gerücht, dass Singen angeblich schlau macht, kann der Neurologe allerdings nicht bestätigen: "Es gibt ein paar Studien, wo sich eine ganz leichte Anhebung an räumlich-mathematischen Fertigkeiten zeigt bei Kindern, die singen", so Altenmüller. Diese sei aber statistisch gesehen zu vernachlässigen: "Der Effekt ist nur ganz klein."

Phänomen "Brummer" - unheilbar?

Vermutlich jeder Musiklehrer und Chorleiter kennt das: Kinder, die einfach keinen Ton treffen. Häufig bleiben sie in einer Art Singsang mit wenigen Tönen, der nichts mit dem Lied zu tun hat. Warum tun sich manche Kinder so schwer damit, eine Melodie richtig nachzusingen? Und wie kann man ihnen helfen?

"Das ist ganz häufig reine Trainingssache", sagt Andreas Mohr. Der Stimmbildungsprofessor hat einige Methoden entwickelt. Bei der sogenannten "Lückenmethode" beispielsweise sitzen die Kinder im Kreis und singen ein Lied, das alle kennen. Allerdings singt jedes Kind einzeln reihum jeweils nur einen Ton. "Der Trick dabei ist, dass alle Kinder das Lied stumm innerlich mitsingen müssen, um dann, wenn sie dran sind, den richtigen Ton zu erwischen", erklärt Mohr.

Verhauchte Kinderstimmen - ein Warnzeichen?

Seit Jahrtausenden singen Eltern ihren Kindern vor. Bei den Kindern wird dabei das Bindungshormon Oxytocin ausgeschüttet.  | Bildquelle: Nadja Pfeiffer/BR Seit Jahrtausenden singen Eltern ihren Kindern vor. Bei den Kindern wird dabei das Bindungshormon Oxytocin ausgeschüttet. | Bildquelle: Nadja Pfeiffer/BR Grundsätzlich sollten bei Heiserkeit und Nebengeräuschen auf der Stimme die Warnglocken läuten. Doch wer singenden Kindern zuhört, wird schnell feststellen, dass die meisten von ihnen etwas verhauchte Stimmen haben. Und das ist in einem gewissen Rahmen auch ganz normal - und ändert sich erst, wenn ein Kind professionelle Stimmbildung bekommt.

Gabriele Kaiser ist Stimmbildnerin bei den Regensburger Domspatzen. Sie kennt das Phänomen von den Jungs, die als Anfänger in den Knabenchor kommen: "Wie bei fast allen unausgebildeten Gesangsstimmen, ist die Knabenstimme in den Vokalen verhaucht und dünn", sagt Gabriele Kaiser. Das zu ändern ist eine ihrer Hauptaufgaben. "Ziel der Ausbildung ist der Schluss der Stimmlippen - als Grundlage für den professionellen Gesangston." Die Naturstimme eines Kindes bleibe dadurch erhalten, erklärt Kaiser, und werde lediglich "veredelt".

Sollte bei Mädchen die Stimme plötzlich deutlich verhauchter klingen als zuvor, kann das auch den Beginn des Stimmwechsels ankündigen. Ähnlich wie bei den Jungs haben nämlich auch Mädchen eine Art "kleinen Stimmbruch". In dieser Phase wird die Stimme um etwa eine Terz tiefer. "Und das hört man, indem die Stimme behaucht ist", sagt Michael Fuchs. "Trotzdem ist sie ist in der Zeit leistungsfähig."

Chorleiter, Stimmbildner und Mediziner sind heute in der glücklichen Situation, viel detaillierter über stimmtechnische Details Bescheid zu wissen als früher. Es besteht also die große Chance, es bei der Ausbildung der Kinderstimmen richtig zu machen - und das am besten von Anfang an.

Das Musik-Feature auf BR-KLASSIK

"Von Engeln und Mutanten"
Wie sich Kinderstimmen gesund entwickeln

Freitag, 24. Mai um 19.05 Uhr auf BR-KLASSIK
(Wiederholung am Samstag, 25. Mai um 14.05 Uhr)

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Samstag, 25.Mai, 21:22 Uhr

Petra Dazert

Von Engeln und Mutanten

Dieser Beitrag sollte ein fester Bestandteil in der Ausbildung von Erziehern/innen und Grundschullehrern/innen im Fach Musik werden!
Ich selbst bin Erzieherin und weiß um die Bedeutung der Inhalte dieses Beitrages.

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