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Kommentar: In der SZ wird Pianist Igor Levit attackiert So unterirdisch kann "Musikkritik" sein

In der Süddeutschen Zeitung vom 16. Oktober ist auf der ersten Seite des Feuilletons ein Artikel über den Pianisten Igor Levit erschienen. Der Text beginnt als Musikkritik und endet als politische Attacke. Darin überschreitet SZ-Kritiker Helmut Mauró eine Grenze. Eine Erwiderung.

Bildquelle: Robbie Lawrence

Wir Musikkritiker sind kritische Menschen, wir lieben den Streit und manchmal die Polemik. Der eine findet Thielemann besser, der andere Petrenko. Der eine schwört auf Trifonov, der andere auf Levit. Auch wenn wir eigentlich wissen, dass solche Vergleiche unsinnig sind. Aber Feuilleton ist kein Ponyhof. Das wusste schon der Philosoph Walter Benjamin: "Echte Polemik nimmt ein Buch sich so liebevoll vor, wie ein Kannibale sich einen Säugling zurüstet." Für mich darf es zwar gern auch eine Nummer zivilisierter sein. Aber solange es um künstlerische Fragen geht, soll die Klinge scharf sein. Direkte Erwiderungen, Debatten gar, sind da meist unnötig. Im Gegenteil. Polemik gegen einen Künstler, den wir schätzen, spornt uns Musikjournalisten an: Beim nächsten Konzert wetteifern wir um den besser begründeten, gern auch den besser formulierten Text.

LEGATO UND "OPFERMORAL"

Aber heute steht ein seltsamer Artikel in der Süddeutschen. Dieser Text fordert eine Erwiderung. Er beginnt als Musikkritik und endet als politische Attacke auf einen Menschen. Der Musikkritiker Helmut Mauró nimmt sich den Pianisten Igor Levit vor. Mauró mag Levits Legato nicht. Er mag nicht, wie sich Levit beim Spielen bewegt. Levits Beethoven-Einspielung sei "eher unerheblich". Und überhaupt sei Trifonov besser. Ist zwar unsinnig, weil die beiden meist unterschiedliches Repertoire spielen. Außerdem falsch, schnöselig, lausig begründet – meiner Meinung nach. Aber im Rahmen einer Musikkritik ist es völlig in Ordnung, sowas zu schreiben. Doch dann geht es weiter. Nach dem Pianisten rückt der Mensch ins Fadenkreuz.

IGOR LEVIT UND PARIS HILTON

Levit twittert. Er engagiert sich politisch. Mehr noch: Er stößt damit auf großes Echo, bekommt dutzendweise Auszeichnungen und Preise und sogar das Bundesverdienstkreuz aus der Hand des Bundespräsidenten. Das gefällt dem Musikkritiker nicht, der sich nun zum Pathos des Kulturkritikers aufschwingt. Levits phänomenale Resonanz verdanke sich gar nicht seinem legatoschwachen Klavierspiel, ja nicht mal seinem vorlauten politischen Engagement, sondern der bösen amerikanisch-kulturlosen Unsitte, das eigene Privatleben in den Sozialen Medien nach außen zu kehren. Für den SZ-Autor ist Levits Erfolg schlicht abgekupfert – und zwar bei der US-Celebrity-Größe Paris Hilton.

WER VERBREITET HASS?

Bei diesem Glanzstück der Gegenwartsanalyse, dessen Absurdität stark in Richtung Eigensatire tendiert, belässt es Mauró nicht. Seine Aggressionen sitzen tiefer. Ihn stört es, dass sich Levit ständig gegen Rechtsradikale und Antisemitismus wendet. Levit vertrete eine "Opferanspruchsideologie". Er und seine Freunde nähmen – dieses Zitat muss man zweimal lesen – "ein opfermoralisch begründbares Recht auf Hass und Verleumdung" in Anspruch. So ist das also: Ein Künstler, der von Rechtsextremisten und Antisemiten mit dem Tod bedroht wird, und zwar so ernsthaft, dass die Polizei Konzerte von ihm schützen musste (was Mauró natürlich nicht erwähnt), der stellt "Ansprüche". Schlimmer: Er verbreitet "Hass", wenn er sich wehrt. Levit sei schlicht undankbar gegenüber Deutschland, findet Mauró. Offenbar soll er schweigen und endlich Legato üben.

OPFER-TÄTER-UMKEHR

Man fasst es nicht: Mauró findet es offenbar ideologisch und verleumderisch, wenn sich ein Jude darüber aufregt, dass Juden in Deutschland mit dem Tod bedroht werden. Das ist nicht nur krass unsolidarisch, das ist übel. Da haben wir sie, die klassische Opfer-Täter-Umkehr: Dem Bedrohten wird auch noch die Aggression der Angreifer in die Schuhe geschoben. So unterirdisch kann "Musikkritik" sein.

Zur Transparenz:

Igor Levit tritt im BR-KLASSIK-Podcast "32 x Beethoven" auf. Bernhard Neuhoff ist verantwortlicher Redakteur dieses Podcasts und hat im Rahmen dieses Projekts eng mit Igor Levit zusammengearbeitet.

Update: Inzwischen gibt es von verschiedener Seite heftige Kritik am Artikel von Helmut Mauró. Die Süddeutsche Zeitung reagierte mit einer Stellungnahme. Lesen Sie hier mehr dazu.