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Kommentar – Weihnachtszeit ohne Kulturveranstaltungen Überschätzte Geschenke, unterschätzte Seele

In den neuen Beschlüssen und in der Regierungserklärung der Kanzlerin wird die Kultur zwar erwähnt und auch bedauert, aber es steht fest: Theater, Konzerthäuser, Museen und Opern bleiben zu. Eine Einschätzung von Maria Ossowski.

Bildquelle: dpa-Bildfunk/Daniel Karmann

Dreimal hat die Kanzlerin in ihrer Regierungserklärung zu den neuen Beschlüssen am 26. November die Kultur erwähnt. Erstens, dass die Kultur mit großen wirtschaftlichen Folgen zu kämpfen hätte. Zweitens, es dürfe nicht heißen "Gesundheit ODER Kultur", sondern "Gesundheit UND Kultur". Und drittens, dass Kultur und Gastronomie eine besonders große Last trügen.

All das ist völlig richtig, praktisch aber bedeutet der Beschluss: Kulturelle Veranstaltungen wird es keine geben, mindestens bis Januar. Ausgenommen ist das Radio, das Fernsehen oder das Streaming im Netz. Aber Menschen, die musizieren oder Konzerte besuchen, die Theater und Tanz lieben, die sich gern an dunklen Tagen in Museen der Kunst erfreuen, sie dürfen, trotz aller hervorragend erarbeiteter Hygienekonzepte der Einrichtungen schlicht – nichts. Und das ist keine kleine Minderheit.

"Kultur, gib Ruhe!"

Schauen wir uns kurz die Zahlen der Vorjahre an: 18 Millionen Opern-, Theater-, Konzert- oder Lesungsbesuche weist die Statistik aus. Das wären anderthalb Millionen im Monat, rechnen wir die Sommerferien raus und den Dezember rein als besonders beliebt, wissen wir, dass in der Vorweihnachtszeit sehr viel mehr Menschen als sonst auf etwas verzichten, das hygienisch so abgesichert ist wie kaum ein anderer Bereich. Hinzu kommen pro Monat neun Millionen Museumsbesuche. Erfahrungsgemäß, das ist nicht elitär, sondern schlicht Realität, halten sich Kulturfreunde besonders streng an Hygiene-Vorgaben. Nach der erstaunlich groben Mahnung der nordrhein-westfälischen Kulturministerin Pfeiffer-Poensgen, die Kultur solle keine Extrawurst braten, traut sich fast niemand mehr, an derlei Maßnahmen Kritik zu üben. Ihr Subtext lautete: Ihr Kulturtypen, stellt Euch gefälligst nicht so an. Die Überbrückungsgelder für Kulturschaffende sollen schließlich gezahlt werden, wenn's auch im November besonders hakte. Also: Kultur, gib Ruhe.

Weihnachten ist mehr als Familienglück

Einspruch. Stopp. Das ist zu kurz gedacht. Dem liegt ein Kulturverständnis zugrunde, das Vergnügen und Begegnung mit anderen und damit die Ansteckungsgefahr in den Mittelpunkt stellt. Weihnachten ist aber keineswegs nur Familienglück. Die Weihnachtszeit ist für sehr viele Menschen in diesem Land eine besondere Herausforderung. Eben weil sie familiäre Verluste oder Trennungen verkraften müssen, oder auch, weil sie krank sind. Hinzu kommt: Für viele ist Weihnachten besonders hart, weil sie allein sind. Knapp 18 Millionen Einpersonenhaushalte gibt es in Deutschland. Das ist nahezu die Hälfte.

Trost für die Seele

Sie mögen es kitschig nennen oder peinlich-pathetisch: aber die Seele vieler Menschen braucht in der Vorweihnachtszeit Trost. Trost mit Musik, mit Konzerten, mit Theatern, mit Musicals, mit Kunst. Kultur hilft, die seelisch herausforderndste Zeit des Jahres gut zu überstehen. Viele von uns Zuhörerinnen und Zuschauern, wir, die Besucher, hätten alles getan, Masken immer getragen, Abstand immer gehalten, um der Vorweihnachtszeit eine – nochmal Kitschgefahr – "innere Bedeutung" zu verleihen. Jetzt konzentriert sich das Miteinander auf Konsum und Familie.

Die Politik überschätzt Geschenke und unterschätzt seelische Bedürfnisse. Der Mensch lebt nicht vom Brot allein, heißt es in der Bibel. Für 2020 und die Kultur gilt: auch nicht allein von der Weihnachtsgans im Familienkreis.

Sendung: "Leporello" am 26. November 2020 ab 16:05 Uhr auf BR-KLASSIK