415 Jahre nach der Uraufführung in Mantua hat Claudio Monteverdis "L' Orfeo" warten müssen, ehe er erstmals an der Wiener Staatsoper aufgeführt wurde. Am Samstagabend war es soweit. Regisseur Tom Morris' Plan: Die Trennung zwischen Bühne und Publikum aufzuheben. Ob ihm das gelungen ist, weiß Bernhard Doppler. Er hat die Premiere für BR-KLASSIK in Wien miterlebt.
Bildquelle: Wiener Staatsoper / Michael Pöhn
"Herzlich willkommen zur Hochzeit von Orfeo und Eurydice!", heißt es auf Tafeln am Eingang der Wiener Staatsoper. Im Parkett und in der Gaderobe tummeln sich als Schäfer kostümierte Hochzeitsgäste, unterhalten sich mit dem eintrudelnden Publikum und lassen sich auch gerne von ihm fotografieren.
Bildquelle: Wiener Staatsoper / Michael Pöhn
Der Orchestergraben in der Mitte der Oper, im Zentrum also, ist ein wenig hoch gefahren. Auch auf der Bühne, auf der sich als Videoprojektion der Zuschauerraum spiegelt, tummeln sich Chor und Ballett – Bühne und Kostüme stammen von Anna Fleischle. Unter Trommelwirbel bahnt sich schließlich Pablo Heras-Casado, der Dirigent des Abends, seinen Weg mitten durch den Zuschauerraum, ehe er dann die Fanfare zu Ehren von Fürst Gonzaga schmettern lässt. Die Trennung von Publikum und Bühne will Regisseur Tom Morris bei Claudio Monteverdis "L'Orfeo" aufheben – Oper als gemeinsam gefeiertes höfisches Fest.
415 Jahre nach der Uraufführung in Mantua hat diese Oper warten müssen, ehe sie nun erstmals in der Wiener Staatsoper aufgeführt wird. Wahrlich ein großer Nachholbedarf! Mag es 1607 bei der Uraufführung noch ein akademisches Experiment gewesen sein, mit einer "favola in musica" die Aufführungspraxis des antiken Dramas zu rekonstruieren, könnte man 2022 beinahe auf den Gedanken kommen, in Montverdis erster Oper nicht nur den Archetypus, sondern in gewisser Weise sogar schon die Erfüllung der Gattung zu sehen.
Bildquelle: Wiener Staatsoper / Michael Pöhn
Wie sich Gesang entwickelt, wie er von einem großen Orchester umspielt wird, wie Chöre das Geschehen kommentieren, wie volksnahe Tänze und instrumentale Teile es unterbrechen, zeigt "L'Orfeo" – dazu gibt es ein recht großes Personal von Hirten und allegorischen Figuren. Das geistreich intellektuelle Libretto von Allessandro Striggio zitiert Dante ("Lass alle Hoffnung fahren"), philosophiert über Kirche und Antike und macht mit Orpheus die Oper selbst zum Thema: im Mittelpunkt der Sänger-Star, der durch Musik den Tod seiner Braut, seine Hoffnungslosigkeit zu überwinden versucht.
Einleuchtend, dass die allegorischen Figuren "die Musik", "die Hoffnung" und "Echo", die den Künstler Orpheus begleiten, in der Wiener Inszenierung zusammengelegt sind, vor allem, wenn sie so eindrucksvoll wie von Kate Lindsey dargeboten werden, gerade auch in ihren tief nachwirkenden Pianissimi. "Botin" und Proserpina (Christina Bock) als Unterstützerinnen von Orfeo werden ebenfalls von einer Person gesungen – und Eurydice (Slávka Zámečníková) ist für ihn auch als Stimme im Totenreich präsent.
Im Mittelpunkt aber die Performance eines Sängers: Georg Nigl verblüfft, nie ermüdend, in seiner äußerst umfangreichen Partie dabei mit immer wieder neuen Schattierungen: nachdenkliche Melancholie, wütende Ausbrüche, schlichte pointierte Feststellungen, aber auch höchst artifzielle Ausschmückungen, bisweilen swingend wie ein Rockstar.
Bildquelle: Wiener Staatsoper / Michael Pöhn
In der Wiener Staatsoper musiziert aber nicht das hauseigene Orchester, sondern Spezialisten für Alte Musik – speziell für Monteverdi: der von Nikolaus Harnoncourt mitbegegründete "Concentus Musicus Wien" trat erstmals 1954 mit der ersten Aufführung der Originalfassung von "L'Orfeo" spektakulär in Erscheinung und erkundete immer wieder gerade dieses Werk neu. Unter Pablo Heras Casado ist "L'Orfeo" aber auch 2022 noch immer eine Entdeckungsreise, voll intellektueller Spannung und Konzentration. Viel Beifall also, der diesmal in Wien auch der Regie galt.
Die Vorstellung des "L'Orfeo" wird am 18.6. weltweit live und kostenlos aus der Wiener Staatsoper gestreamt - unter: play.wiener-staatsoper.at
Sendung: "Allegro" am 13. Juni 2022, um 6:05 Uhr, auf BR-KLASSIK.
Kommentare (2)
Donnerstag, 16.Juni, 08:08 Uhr
Dorit Führer-Pawikovsky
Harnoncourt
Guten Tag, der Concentus musicus wurde von Nikolaus Harnoncourt nicht "MITBEgegründet" (!), sondern GEgründet, außerdem schreibt man seinen Vornamen mit k und nicht mit c. Mit besten Grüßen die Obige
Liebe Frau Führer-Pawikovsky,
besten Dank für den Hinweis. Der Buchstabe ist korrigiert. Da Harnoncourt den Concentus Musicus zusammen mit seiner Frau Alice und weiteren Mitgliedern des Originalensembles gegründet hat, halten wir die Formulierung "mitbegründet" für angemessen.
Herzlich!
BR-KLASSIK
Sonntag, 12.Juni, 17:15 Uhr
Silvia Iberer
CONCENTUS MUSICUS WIEN, L'ORFEO
Sehr geehrter Herr Doppler,
herzlichen Dank für Ihre Kritik!
Ich war gestern als Geigerin im Orchester tätig und möchte Sie auf die richtige Schreibweise unseres Namens aufmerksam machen : wir sind der CONCENTUS musicus Wien (- nicht Concertus).
Der Name bezieht sich auf Johann Joseph Fux' Sammlung "Concentus musico instrumentalis".
Mit freundlichen Grüßen
Silvia Iberer
Besten Dank, liebe Frau Iberer. Wir haben den Fehler korrigiert. Herzlich! BR-KLASSIK