Ein Hexentanz um Glamour, Glanz und Elend: Frank Castorf inszeniert Charles Gounods Oper "Faust" für die Oper Stuttgart. In der Walpurgnisnacht tummeln sich zahlreiche "böse Clowns" mit Skelettmasken auf der Bühne - passend zu Halloween.
Der deutsche Faust will dem Menschen auf den Grund gehen, der französische Faust nur an die Wäsche, das ist bekanntlich ein großer Unterschied, und diesen Unterschied hat Frank Castorf gestern Abend an der Stuttgarter Staatsoper ausgesprochen unterhaltsam, anspielungsreich, augenzwinkernd und sehr aufwändig inszeniert.
Das Publikum jedenfalls war begeistert: Anders als bei Castorfs hoch umstrittenen "Ring des Nibelungen" in Bayreuth war am Ende kein einziger Buh-Rufer zu hören. Die Stuttgarter Zuschauer gelten als bildungsbeflissen, tolerant und neugierig, was Castorf wohl erwartet hatte, so betont lässig, ja gewollt "cool", wie er sich dem Beifall stellte.
Charles Gounods reißerischen, lebens- und liebeshungrigen "Boulevard-Faust" verlegte Castorf an die Pariser Untergrund-Station "Stalingrad", die es wirklich gibt. Obdachlose hausen dort, das Café "Zum schwarzen Gold" hat nebenan ein paar Tische aufgestellt, die berühmten gespenstischen Wasserspeier von Notre Dame ragen ins Bild, eine ehemalige Metzgerei ist vernagelt und verwahrlost, darüber wohnt die verarmte Margarete und ist heilfroh, als sie von Faust mit Juwelen überschüttet wird. Es macht ihr auch nichts aus, dass der Teufel mit der Hölle droht.
Belesene Zuschauer freuen sich bei Castorf-Inszenierungen immer über alles, was sie verstanden haben, unbelesene Zuschauer über alles, was sie noch vor sich haben: Die Dichter Arthur Rimbaud, Paul Verlaine, Charles Baudelaire, Honoré de Balzac und Heinrich Heine zum Beispiel, die diesen "Faust" allesamt inspiriert haben und teils zitiert werden. Castorf überfordert den Zuschauer gern, seine Inszenierungen sind anstrengend, schon deshalb, weil alle Szenen mitgefilmt und auf Leinwände projiziert werden. Die Mitwirkenden sind also fast durchgängig simultan in Großaufnahme zu sehen, immer wieder unterbrochen von voraufgezeichneten Spielszenen. Die imposante Würgeschlange zum Beispiel als Sinnbild der Sünde ist nur im Film echt, in der Vitrine auf der Bühne lag stellvertretend ein Gummi-Exemplar.
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Demgegenüber hatte es der brasilianische Tenor Atalla Ayan als Faust schwer. Die Verwandlung vom alten, gebrechlichen Mann zum nassforschen, jugendfrischen und vor allem skrupellosen Lebemann wirkte nicht sehr glaubwürdig. Der französische Dirigent Marc Soustrot hatte zwar hier und da Mühe, das turbulente Bühnengeschehen mit dem Orchester zu koordinieren, schwelgte aber auch herrlich ironisch in lärmender Walzerseligkeit, Marschmusik und Liebestaumel. Gounod liebte es deutlich bis überdeutlich, seine Kritiker nennen es auch sentimental. Vergnüglich ist es auf jeden Fall, berührend auch. Und ergänzt um Castorfs Einfälle sogar spektakulär. Ein toller Hexentanz um Glamour, Glanz und Elend!