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Internationale Klassikszene in der Corona-Krise Werden die Orchester überleben?

Die Corona-Krise trifft die Kultur in jedem Land anders: Viele deutsche Berufsorchester werden öffentlich, staatlich oder städtisch finanziert oder unterstützt, sie sind relativ sicher. Doch andere Orchester und Institutionen in Europa und weltweit sehen sich in ihrer Existenz bedroht und fürchten um eine nachhaltige Beeinträchtigung.

Bildquelle: picture alliance/ZUMA Press

"Ich bin der Chefdirigent eines Orchesters in London, das im Grunde nur bezahlt wird, wenn es spielt", sagte Simon Rattle im Interview mit BR-KLASSIK. Ihn und das London Symphony Orchestra trifft die Corona-Krise hart: Wegen ausbleibender Konzerte bekommen die Musiker kaum noch Geld. Denn anders als deutsche Berufsorchester, werden sie pro Auftritt bezahlt. 99 Tage wäre das Orchester im kommenden Jahr auf internationaler Konzerttournee gewesen. All das fällt wohl weg und könnte den Klangkörper nachhaltig beschädigen. In einem offenen Brief im britischen "Guardian" warnt Rattle gemeinsam mit dem Dirigenten Mark Elder davor, dass die Corona-Pandemie viele Orchester zerstören könnte.

Ein Orchester ist schnell zerstört.
Dirigent Simon Rattle

Amerikanische Orchester bangen um Existenz

Peter Gelb, Intendant der New Yorker MET. | Bildquelle: Brigitte Lacombe / Metropolitan An der New Yorker Metropolitan Opera ist an einen regulären Spielbetrieb ebenfalls nicht zu denken. Bis Ende des Jahres bleibt das weltberühmte Opernhaus Corona-bedingt geschlossen. "Social Distancing und große Oper schließen sich einfach gegenseitig aus", sagte Intendant Peter Gelb vergangene Woche in einer Videonachricht. Für die Musiker der Met ist das eine Hiobsbotschaft. Bereits seit April sind Orchester und Chor freigestellt. Dem Musiker En-Chi-Cheng brachen plötzlich alle Einnahmen weg, denn das Opernhaus zahlt nur noch die Kranken- und Instrumentenversicherung. "Das ist eine sehr ernste Angelegenheit für uns", sagt der Bratschist. "Wenn die Situation anhält, muss ich mich nach anderen Jobs umschauen.

Momentan lebt der Taiwanese von seinen Ersparnissen. Doch manche seiner Kollegen wissen nicht, wie sie ohne Engagements bis Ende des Jahres über die Runden kommen sollen. Eine Situation, die sich auch nachhaltig auf die Qualität des Orchesters auswirkt, meint En-Chi Cheng. Denn zum einen ist das Proben nur sehr eingeschränkt möglich, zum anderen schauen sich viele Mitglieder schon bei anderen Orchestern um und wollen sich bei anderen Klangkörpern bewerben: "Viele überlegen ihre Karriere dort fortzusetzen, wo sie bald wieder auftreten können und anständig bezahlt werden. Das wird sicher einiges im Orchester verändern."

Andere Orchester wie das Pittsburgh Symphony Orchestra oder das Boston Symphony Orchestra trifft die Corona-Krise nicht ganz so hart. Zwar können sie ebenfalls keine Konzerte mehr spielen, doch als Teil der amerikanischen Orchestervereinigung (League of American Orchestras) gilt für sie die "Paycheck Protection". Diese Regelung garantiert den Organisationen, die eine bestimmte Größe nicht überschreiten, mindestens 60 Prozent ihres regulären Einkommens und wurde gerade bis Ende des Jahres verlängert.

In Europa ist die Lage etwas besser

Dominique Meyer, derzeit Chef von Wiener Staatsoper und Mailänder Scala. | Bildquelle: Antonio Calanni/picture-alliance/dpa Auf dem europäischen Festland ist die Lage für Orchester etwas besser, weil viele von ihnen staatlich gefördert werden, wie etwa Klangkörper von großen Opernhäusern. Zwar wurde bei vielen Institutionen, wie dem Opernhaus Zürich oder den österreichischen Bundestheatern frühzeitig Kurzarbeit angemeldet, doch immerhin konnte dadurch ein Großteil der Musikergehälter gesichert werden.

Dominique Meyer leitet derzeit zwei weltberühmte Opernhäuser: Bis Ende des Monats arbeitet er noch an der Wiener Staatsoper, gleichzeitig ist er seit März auch an der Mailänder Scala tätig. An beiden Häusern wird in dieser Saison kein regulärer Spielbetrieb mehr stattfinden, es gilt Kurzarbeit. Zwar sagte Meyer gegenüber BR-KLASSIK, dass "viele Organisationen jetzt ums Überleben kämpfen müssen, doch solange es Unterstützung aus staatlicher Hand gibt, sehe ich uns sehr gut gesichert", so Meyer. "Viel dramatischer ist die Situation für die Solo- und Gastsänger. Um die sollten wir uns viel mehr Sorgen machen." Dennoch werde die Corona-Krise auch an der Mailänder Scala nicht spurlos vorbeigehen, betont der Operndirektor: "Wir arbeiten gerade an einem umfassenden Sparprogramm, das Ende des Jahres greifen soll", so der Direktor. "Das sind Corona-bedingte Maßnahmen, die wir ausarbeiten müssen und die werden das gesamte Haus betreffen." Wann das weltberühmte Opernhaus wieder für den Spielbetrieb öffnen kann, ist derzeit nicht klar.

Ich habe der Regierung gesagt, wir werden erst wieder öffnen, wenn die Rahmenbedingungen stimmen.
Dominique Meyer, Direktor der Mailänder Scala

Freie Orchester sind besonders betroffen

Freie Orchester wie das Mahler Chamber Orchestra trifft die Krise ungleich härter, als die geförderten Berufsorchester. Die Einnahmen kommen zu über 90 Prozent aus Konzertgagen. Zwar hat das Orchester seinen offiziellen Sitz in Berlin, doch drei Viertel aller Konzerte finden normalerweise im Ausland statt. Entsprechend desaströs sei die aktuelle Lage, sagt Michael Adick. Verluste von drei Millionen Euro verzeichnet der Orchestermanager seit Beginn der Corona-Pandemie. Hinzu kommt, dass die Mitglieder auf verschiedenen Kontinenten verstreut leben: "Die sind auf die jeweiligen Hilfssyteme ihrer Länder angewiesen. Die sind abhängig von den jeweiligen Regelungen des Landes und den Hilfen, die den Musikern zu teil werden."

Doch die Unterstützung kann sehr unterschiedlich ausfallen – umfangreiche Kulturhilfspakete wie in Deutschland sind eher die Ausnahme. Darum hilft sich das Mahler Chamber Orchestra inzwischen selbst, mit Nothilfen aus einem Orchester-eigenen Fonds: "Musiker, die sehr stark betroffen sind, versuchen wir durch unsere MCO Foundation unter die Arme zu greifen, um so besondere Härtefälle im Orchester abfedern zu können."

Russland berät noch

Wladimir Urin, Direktor des Bolschoi-Theaters. | Bildquelle: picture alliance/Iliya Pitalev/Sputnik/dpa In Russland gibt es für private Orchester, freischaffende Musiker und Musikerinnen derzeit keine staatlichen Hilfen. Das Kulturministerium berät noch, wie man sie in der Corona-Krise am besten unterstützen kann. Die Förderungen für große Häuser wie das Mariinsky-Theater und das Bolschoi-Theater sind dagegen gesichert. Außerdem hat die Regierung vor kurzem zusätzliche Mittel zur Unterstützung des Bolschoi beschlossen. Finanziert wird das Theater zu über 60 Prozent vom Staat, der Rest wird durch private Sponsoren aufgebracht.

Bisher habe es nur kleine, partielle Einsparungen gegeben, sagte der Direktor des Bolschoi-Theaters Wladimir Urin. Da aber weiterhin keine Vorstellungen stattfinden dürfen, hat der Intendant alle Künstler in den Urlaub geschickt hat, um Ende Juli die Arbeit wieder aufzunehmen. Er hoffe, dass bis dahin mehr Klarheit herrsche. Zum Teil ist das Proben für Orchester seit dem 9. Juni wieder möglich. Da Russland aber noch ganz am Anfang der Corona-Lockerungen steht, gibt es keinen Plan für den Neustart des Kulturlebens. Bisher ist der Konzertbetrieb erst für September geplant, kann in den verschiedenen Regionen des Landes aber unterschiedlich schnell geschehen.

Einsparungen in Australien, Hoffnungen in Japan

Weltweit zeigt sich, dass dort, wo der Staat die Ensembles nicht fördert, die Not am Größten ist. Einen Gehaltsverzicht müssen viele Ensemblemitglieder hinnehmen. Auch beim Sydney Symphony Orchestra wurden die Löhne bis zu 30 Prozent reduziert, 22 vakante Stellen werden bis 2022 nicht besetzt, um Kosten zu reduzieren. In Japan hingegen macht man sich schon Hoffnung, dass derlei Maßnahmen nicht nötig sind. Die Regierung hat ein Konzept für die Wiederaufnahme von Kulturveranstaltungen bekannt gegeben: Aktuell liegt die Zahl mit 100 Gästen bei Indoor-Konzerten und 200 Menschen bei Open Air-Veranstaltungen doppelt so hoch, wie in Bayern ab dem 15. Juni. Bereits Mitte Juni sollen wieder 1.000 Konzertgäste erlaubt sein, sofern eine Sitzplatz-Auslastung von 50 Prozent nicht überschritten wird. Dies soll zu einer raschen Normalisierung des japanischen Kulturlebens führen. Doch wie schnell Konzerte mit großen Klangkörpern wieder rentabel werden, bleibt abzuwarten. Und so bleibt die Lage für viele internationale Ensembles und Orchester weiterhin prekär.

Sendung: Allegro am 12. Juni 2020 ab 06.05 Uhr