Dumpinglöhne, Machtmissbrauch, unzumutbare Arbeitsbedingungen - schon länger steht Gustav Kuhn, der Leiter der Tiroler Festspiele Erl, in der Kritik. Nun äußern sich betroffene Künstlerinnen in einem offenen Brief und werfen Kuhn sexuelle Übergriffe vor. Die Leitung wolle sich allerdings erst ab Montag mit der Klärung der Vorwürfe beschäftigen. Der Grund: Kuhn müsse bis Sonntag noch den "Ring" dirigieren.
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Es ist das erste Mal im Fall Erl, dass Betroffene namentlich an die Öffentlichkeit gehen. Die Verfasserinnen des offenen Briefes, der an Hans Peter Haselsteiner, den Präsidenten der Tiroler Festspiele, adressiert ist, kritisieren den Umgang der Festspielleitung mit den aktuellen Vorwürfen: "Wir, die Unterzeichneten, waren bei den Festspielen in Erl als Künstlerinnen tätig. Die unangemessene Art, wie auf das Ansprechen der dortigen Zustände reagiert wurde, macht es uns unmöglich, länger über unsere eigenen Erfahrungen zu schweigen."
Mit einer Pressemitteilung in Form eines offenen Briefs, der sich namentlich an die fünf Betroffenen richtet, reagierte nun Präsident Hans Peter Haselsteiner seinerseits auf die Vorwürfe und zeigt sich nach eigenen Worten "einerseits schockiert, aber auch überrascht". Er wolle veranlassen, dass den erhobenen Vorwürfen mit Ernsthaftigkeit und Akribie nachgegangen werde. Allerdings erst nach Abschluss des Ring-Zyklus, den der künstlerische Leiter Gustav Kuhn noch am Wochenende bei den Festspielen leitet. Haselsteiner erklärte wörtlich: "Allerdings werde ich diesbezüglich erst ab Montag tätig werden, um das Ende der Festspiele abzuwarten. Es war Ihnen sicher nicht bewusst, dass Ihr Outing am Tag vor Wagners Ring erfolgt; ein Zyklus, der dem Dirigenten Gustav Kuhn alles abverlangt, insbesondere, weil er an vier aufeinander folgenden Tagen gespielt wird. Als Künstlerinnen werden Sie sicher für die kleine Verzögerung Verständnis aufbringen."
Haselsteiner weist auch darauf hin, dass die Staatsanwaltschaft Innsbruck die Vorwürfe prüfe. Außerdem sei es seiner Meinung nach „wünschenswert, wenn nicht gar unabdingbar notwendig“, dass sich die Betroffenen der extra wegen der erhobenen Vorwürfe von den Festspielen bestellten Ombudsfrau anvertrauten.
Als "direkt Betroffene, Zeuginnen und Mitwissende" werfen die Betroffenen dem künstlerischen Leiter Gustav Kuhn anhaltenden Machtmissbrauch und sexuelle Übergriffe vor: "Auch einige von uns waren solchen ausgesetzt: unerwünschtem Küssen auf den Mund oder auf die Brust, Begrapschen unter dem Pullover, Griff zwischen die Beine etc., von obszöner verbaler Anmache ganz zu schweigen."
Immer wieder seien Grenzen der persönlichen Würde und des Respekts missachtet und überschritten worden. Man sei regelmäßig der ungehemmten Aggression des künstlerischen Leiters ausgesetzt gewesen, massive seelische Gewalt in Form von Mobbing, öffentlicher Bloßstellung, Demütigung und Schikane seien an der Tagesordnung gewesen.
Wer sich nicht an die Spielregeln gehalten habe, sei mit Repressalien und Ausgrenzung bestraft worden. Versprochene Rollenaufträge und Verträge seien zurückgezogen, die zuvor gelobte Leistung vor der Gruppe ins Lächerliche gezogen worden. Nun fordern die Verfasserinnen Konsequenzen: "Wir sind empört, dass trotz der allseits bekannten Faktenlage die notwendigen Konsequenzen noch immer auf sich warten lassen, sowohl von Seiten der Präsidentschaft der Festspiele als auch von Seiten der zuständigen Politik."
Unterzeichnet ist der Brief von Musikerinnen aus Weißrussland, Deutschland, Italien und der Schweiz. Mit ihrem Schritt an die Öffentlichkeit möchten sie weitere Betroffene auffordern, sich an "art but fair" zu wenden und zu gemeinsamem Handeln zusammenzuschließen.
Kuhn wies die Vorwürfe zurück. Sein Mandant werde sich gegen diese "Menschenjagd" mit den Mitteln des Rechtsstaates zu wehren wissen, der offene Brief sei unverantwortlich, teilte sein Anwalt, Ex-Justizminister Michael Krüger, in einer Stellungnahme mit.