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Kritik am NV-Solo Vertrag Ein Druckmittel der Intendanten?

Wer hätte das nicht gern als Solist:in: Eine Festanstellung an einem deutschen Opernhaus, nach einem geregelten Vertrag wie im öffentlichen Dienst: Dem NV-Solo. Doch der hat Tücken. Eine kritische Analyse.

Justizia in der Abenddämmerung
| Bildquelle: picture alliance / Shotshop | Birgit Reitz-Hofmann

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Es beginnt meist im Oktober

Gut ist, wenn man als Künstler:in nichts hört: Denn bei Stillschweigen wird der Vertrag automatisch verlängert. Soll das Vertragsverhältnis aber beendet werden, bittet der Intendant zum Gespräch, und das muss rechtzeitig sein: Mitte Oktober trudeln deswegen bei Solist:innen an deutschen Opernhäusern die gefürchteten Einladungen zum Gespräch ein. Wenn Intendanten ein Vertragsverhältnis mit einem Ensemblemitglied beenden wollen, müssen sie dafür nämlich Gründe nennen. Die können vielfältig sein.

Nachlassende Stimme als Kündigungsgrund?

In der Regel werden Theaterleitungen sich auf nachlassende künstlerische Leistungsfähigkeit berufen, denn letztlich ist das selten beleg- oder widerlegbar, sondern ist ein Geschmacksurteil, das kaum gerichtlich überprüft werden kann. Diese Formalitäten richten sich nach dem Normalvertrag Bühne (NVB, gelegentlich auch NV-Solo genannt). Darin ist festgelegt, dass sich die befristeten Verträge für Solist:innen an deutschen Theatern automatisch um ein Jahr verlängern, wenn sie nicht von einem der Vertragspartner bis zum 31. Oktober der laufenden Spielzeit zur nächsten Spielzeit gekündigt werden.

Eigentlich ein unerlaubter Kettenvertrag

Genauer betrachtet, handelt es sich um einen Kettenvertrag, also eine Aneinanderreihung von befristeten Verträgen, wie sie in anderen Branchen schon lange nicht mehr erlaubt sind. Erst nach fünfzehn ununterbrochenen Jahren an einem Theater kann der Vertrag nicht mehr gekündigt, sondern allenfalls geändert werden.

Sonderkündigungsrecht für  Weiterentwicklung des Theaters

Hinzukommt ein Sonderkündigungsrecht bei einem Intendant:innenwechsel. Das erlaubt der neuen Theaterleitung, diese Verträge auch ohne Angabe von Gründen zu kündigen. Damit sollen neue Intendant:innen die Möglichkeit haben, die künstlerische Ausrichtung des Theaters unabhängig neu zu bestimmen, ohne das Ensemble der Vorgänger übernehmen zu müssen. Oft geht es ja bei einem Leitungswechsel auch darum, dem Theater eine neue Farbe zu geben, eine neue Richtung.

Viele künstlerische Berufe vom NV-Solo betroffen

Übrigens sind nicht nur Solist:innen nach diesem Vertragsmodell angestellt, sondern auch andere künstlerische Berufe: Wie Souffleur:innen oder Regieassistent:innen. Ein Intendant kann damit ein ganzes künstlerisches Ensemble ersetzen.

Wer hier als Theaterleitung kündigt, verzichtet zwar einerseits bewusst auf Wissen und Erfahrung der älteren Mitarbeitenden, macht sich das Leben andererseits aber unter Umständen auch leichter: indem bisher gelebte Strukturen gekappt werden und ein junges Team auf die neue Leitung eingeschworen wird, gehen sich neue Wege leichter und mit weniger Widerstand.

Wo bleibt das deutsche Arbeitsrecht?

Das Paragraphenzeichen einer Tastatur | Bildquelle: pa/dpa Bildquelle: pa/dpa Diese Sonderregelungen des deutschen Arbeitsrechts in künstlerischen Belangen werden seit geraumer Zeit kritisiert. Solistenvertreter bemängeln, dass dadurch die Machtstellung der Intendant:innen weiter gestärkt und die Arbeitsatmosphäre beeinträchtigt werde. Der Willkür von Arbeitgeberseite würden Tür und Tor geöffnet, wenn ohne Angabe von Gründen gekündigt werden kann. Solist:innen, die von de facto unbegründeter Kündigung bedroht sind, würden sich kaum trauen, gegen unhaltbare Zustände am Theater zu protestieren.

Gleiches Recht für alle

Dem könne am besten Abhilfe geleistet werden, indem die Solist:innenverträge in unbefristete Verträge umgewandelt werden, wie das schon heute bei Orchestern der Fall ist. Tatsächlich werden die meisten Orchestermusiker:innen nach dem Tarifvertrag für Musiker in Konzert- und Theaterorchestern (TVK) beschäftigt. Der bietet einen extrem hohen Kündigungsschutz, so dass es den Arbeitgebern fast unmöglich ist, sich von einmal eingestellten Orchestermusikern zu trennen.

Bremst der Vertrag Perspektiven und persönliche Entwicklungen?

Befürworter des NVB erwidern, dass ein solcher Kündigungsschutz dem Grundgedanken künstlerischer Betriebe entgegensteht. Tatsächlich entwickeln sich Stimmen, schauspielerische Fähigkeiten oder die körperlichen Möglichkeiten von Tänzerinnen und Tänzern im Laufe einer Karriere. Kein darstellender Künstler oder Künstlerin kann davon ausgehen, dass die Fähigkeiten bis zur Rente reichen werden. Das stellt auch die Genossenschaft Deutscher Bühnen-Angehöriger (GDBA) nicht infrage. Hier wünscht man sich vor allem, die verpflichtende Anhörung zur Nichtverlängerung genauer zu definieren.

Zeit für einen Paradigmenwechsel

Bisher musste die Theaterleitung lediglich künstlerische Gründe für eine Nichtverlängerung darlegen, die kaum gerichtlich angezweifelt werden können. In Zeiten, in denen sich so gut wie jede Intendanz in Verlautbarungen und Selbstbildern der Nachhaltigkeit, Aufmerksamkeit, Fehlerkultur und nachhaltigen Leitungsformen verpflichtet fühlt, scheint es zwar unzeitgemäß, das Sonderrecht bei Intendanzwechseln exzessiv zu nutzen, aber Beispiele aus jüngster Zeit in Regensburg oder Leipzig zeigen, dass Intendanten davon immer noch gerne Gebrauch machen.

Modernisierung? Fehlanzeige!

Angesichts des traditionell arbeitgeberfreundlichen deutschen Arbeitsrechts scheint eine grundlegende Reform unwahrscheinlich. Insgesamt bleibt die Abwägung zwischen künstlerischen Belangen und sozialer Sicherheit auch in Zukunft heikel. Letztlich handelt es sich um eine finanzielle Frage, denn in den letzten Jahrzehnten wurden unsere Theater so massiv runtergespart, dass sie oft nicht mehr die Mittel haben, um ein großes Ensemble zu unterhalten. Der Blick auf die Tarifregelungen im Ausland zeigt, wie schwierig die Situation ist.

Andere Länder im Vergleich

In Skandinavien sind auch Solist:innen ähnlich gut abgesichert wie Orchestermusiker:innen hierzulande. Allerdings können Künstler und Künstlerinnen dort deutlich früher in Rente gehen und werden dann nicht mehr vom Theater bezahlt. Das ist eine sozialpolitische Entscheidung, die in Deutschland wohl kaum durchsetzbar ist. In England gibt es keine nennenswerten Ensembles an Opernhäusern, hier werden für jede Produktion Einzelverträge geschlossen. Solist:innen müssen für jede Inszenierung vorsingen bzw. vorsprechen oder vortanzen, das gesamte finanzielle Risiko liegt auf ihrer Seite.

Kulturpolitk sollte Intendanten in die Pflicht nehmen

Der schnellste und einfachste Weg zur Verbesserung der Situation der Bühnenkünstler:innen liegt in einer bewussteren Berufungspolitik der Theaterträger. Kulturpolitiker:innen können durchaus Einfluss darauf nehmen, wer die Geschicke ihrer Bühne auf welche Weise leitet. Wenn Theaterträger und Theaterleitungen ihre Lippenbekenntnisse zu verantwortlicher Führungskultur ernst nehmen, muss es nicht zu jenen spektakulären Massen-Nichtverlängerungen kommen, durch die jüngste Diskussionen in Gang gesetzt wurden.

Sendung: "Leporello" am 28.04.2023, 16:05 Uhr auf BR-KLASSIK

Kommentare (4)

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Montag, 01.Mai, 10:24 Uhr

Tim Theo Tinn

Fortsetzung

Ich habe rd. 1,5 Jahrzehnte in solchem Vertragsverhältnis gestanden, 2 mal selbst gekündigt, weil ich für bessere Positionen angefragt wurde (Düsseldorf, München), einmal wurde ich vom Intendanten entfernt, weil ich aufmüpfig war, wäre aber sowieso gegangen. Da wie dort in der Wirtschaft ist dies „business as usual“, es kommt immer auf die Fairness der Beteiligten an.

Die Frage nach sozialistischer Ausrichtung von Künstlerverträgen stellt sich ketzerisch.

Zu meiner Zeit gab es einige Theater, die durch Weiterbeschäftigung von z.B. abgesungenen Männer und Frauen über 15 Jahren (Unkündbarkeit) bei eingeschränkten Mitteln sehr eingeschränkte Bühnenwirklichkeiten verantworten mussten.

Montag, 01.Mai, 10:23 Uhr

Tim Theo Tinn

Bühnenwirklichkeiten und Alltags-Realitäten

Wenn sich der Autor doch ein wenig aus seinen Wolkenkuckucksheim - Vorstellungen gelöst und tatsächlich auf den Alltag in seinen vertraglichen Zwängen und Abhängigkeiten für normale Arbeitnehmer reflektiert hätte. Aber so sind ja gegenwärtige Print- und staatliche Medien, Kompetenz und Qualität kommt nach Billigkeit in Finanzrahmen und inhaltlicher Qualität.

Soziale Absicherung oder künstlerische Karriere muss jeder wählen, wenn der künstlerisch arbeiten will. Und – Theater kann für darstellende Künstler keine planbare soziale Versorgungsanstalt sein. Chor und Orchester haben schon bei sehr überschaubaren Dienstzeiten außerordentliche Privilegien durchgesetzt, die künstlerische Arbeit blockieren – gerade Orchester nutzen diese Privilegien ungehemmt für vielfache sogen. „Mucken“ (wäre woanders Schwarzarbeit), Arbeiten an Hochschulen usw.

Samstag, 29.April, 15:08 Uhr

Theodor

Kleiner Nachtrag

Müsste es im letzten Absatz nicht "Bühnenküntler:innen" statt "Bühnenkünstler" heißen?

Anmerk. d. Red.: Vielen Dank für Ihre Anmerkung, wir haben die von Ihnen bemerkte Stelle korrigiert.

Samstag, 29.April, 15:03 Uhr

Theodor

Vielleicht sollte sich der Autor (oder der bearbeitende Redakteur) sich mehr auf die Anwendungsregeln von "das" und "dass" konzentrieren ("ein Geschmacksurteil, dass (sic!) kaum gerichtlich überprüft werden kann"), als mit der Vielzahl der gegenderten Wortneuschöpfungen den Text absolut unlesbar zu machen.

Anmerk. d. Red.: Vielen Dank für Ihre Anmerkung, wir haben die von Ihnen bemerkte Stelle korrigiert.

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