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Kritik – Cherubinis "Medée" in Salzburg Showdown an der Tankstelle

Medea, die im Zorn ihre eigenen Kinder tötet, ist eine der kontroversesten Figuren der antiken Mythologie – und die Heldin mehrerer Opern, die sich mit dem Stoff auseinandersetzen. Simon Stones Inszenierung von Luigi Cherubinis "Médée" hatte am 30. Juli in Salzburg Premiere. Der Regisseur ergreift radikal Partei für Medea. Das Ergebnis: ein Abend von bestürzender emotionaler Wucht.

Elena Stikhina (Médée), Pavel Černoch (Jason), Ensemble | Bildquelle: © SF/Thomas Aurin

Bildquelle: © SF/Thomas Aurin

Die Kritik zum Anhören

Zur wildgezackten Ouvertüre erzählt der Regisseur Simon Stone in einem Schwarz-Weiß-Film die Vorgeschichte: Ehealltag bei Jason, Medea und den beiden Jungs in einer Salzburger Villa. Medea ist aus Georgien, dem alten Kolchis, zugereist. Erinnerungen an glückliche Tage. Und dann hat Papa plötzlich eine Neue, Dirke. Es kommt zur Scheidung von Medea. Und das Unheil nimmt seinen Lauf.

Naturalistische Filmsets

Stone holt den antiken Mythos von der Kindsmörderin Medea radikal in unsere Gegenwart. Bob Cousins hat ihm dafür auf die Breitwandbühne des Großen Festspielhauses hyperrealistische Filmsets gebaut: Elegante und trostlose Räume, die er meisterhaft variiert, neben- und übereinanderschichtet. Was Stone simultane Erzählebenen erlaubt.

Im Brautkleid-Store ahnt die Dirke der feinnervigen Rosa Feola, dass Medeas Auftauchen für sie nichts Gutes bedeutet. Ihr Vater Kreon, den Vitalij Kowaljow mit profundem Bass verkörpert, amüsiert sich im Striplokal – und verbannt nebenbei Medea per Handy. Am Telefon streiten Medea und Jason auch in ihrem ersten Duett: Sie in einem schäbigen Internet-Café in Tiflis, er in einem gestylten Hotelzimmer in Salzburg, unter der Dusche eine nackte Prostituierte.

Die Inszenierung in Bildern

Gewaltakt live im Fernsehen

Ihre zweite Begegnung findet dann an einer nebelverhangenen Bushaltestelle statt, wo Jason die Kinder bei Medea abliefert. Da flammt die Liebe zwischen beiden nochmal auf. Zuvor hat Kreon der Fremden am Flughafen die Wiedereinreise verweigert. In Jasons Luxus-Appartement einen Stock tiefer verfolgt Medeas Vertraute Neris, herzerwärmend gesungen von Alisa Kolosova, den live gefilmten Gewaltakt im Fernsehen mit. Medea schleicht sich ins Hochzeits-Dinner, ersticht Dirke und Kreon. Zum finalen Showdown kommt es nachts auf einer öden Tankstelle: Medea bespritzt ihr Auto mit Benzin, zündet es an und sucht mit ihren Kindern in dem brennenden Fahrzeug den Tod.

Von der Politik in die Isolation getrieben

Elena Stikhina (Médée), Pavel Černoch (Jason) | Bildquelle: © SF/Thomas Aurin Elena Stikhina (Médée), Pavel Černoch (Jason) | Bildquelle: © SF/Thomas Aurin Simon Stone erzählt ein Immigrantendrama von verstörender Aktualität. Und ergreift radikal für Medea Partei. Schlüssig zeigt er, wie es zu ihren Wahnsinnstaten kommt. Wie übel ihr der Macho Jason mitspielt. Wie die Politik Medea in die Isolation treibt. Wie unbeteiligt die Gesellschaft zuschaut.

Stones Konzept, das er handwerklich virtuos umsetzt, geht auf. Seine psychologisch ausgefeilte Schauspielregie macht aus Opernfiguren Menschen. Pavel Černoch ist ein smarter Jason mit anfangs etwas eng geführtem Tenor. Aber er singt sich frei. Und das gilt vor allem für die grandiose Medea der Elena Stikhina, die mit ihrem kraftvollen Sopran über sich hinauswächst.

Schroffe Akzente, präzise Artikulation und federnde Energie

Das alles wäre aber nur die halbe Miete, wenn uns nicht Thomas Hengelbrock am Pult der Wiener Philharmoniker ein Meisterwerk entdecken ließe. Ganz Beethoven-like lodert Cherubinis dramatischer Furor. Mit schroffen Akzenten, präziser Artikulation und federnder Energie sorgt Hengelbrock für unerhörte Spannung im Graben, gibt aber auch der Schönheit von Cherubinis Melodien Raum.

Und die Wiener tragen seinen historischen Ansatz mit, bringen Cherubinis Instrumentalfarben zum Leuchten. Das Problem der originalen, kunstvoll gereimten französischen Zwischentexte hat Stone durch eigene, berührende Nachrichten Medeas auf Jasons Mailbox gelöst. Ein Abend von bestürzender emotionaler Wucht, voller Tristesse und Gewalt – wie in einem Film von Michael Haneke. Ein Highlight im Festspiel-Sommer 2019.

Sendung: "Allegro" am 31. Juli 2019 ab 6:05 Uhr auf BR-KLASSIK

"Medée" in Salzburg

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