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Kritik – Ouverture Spirituelle bei den Salzburger Festspielen Berührene Einfachheit und stumme Tränen

Die Salzburger Festspiele sind noch nicht eröffnet und haben doch schon begonnen. Seit 2012 startet das Festival alljährlich mit geistlicher Musik. "Ouverture Spirituelle" heißt dieser musikalische Auftakt, der regelmäßig mit hochkarätigen Namen aufwartet und dem Dialog der Religionen gewidmet ist. Dieses Jahr lautet das Thema "Lacrimae" – Tränen.

Lagrime di San Pietro 2019: Grant Gershon (Dirigent), Los Angeles Master Chorale | Bildquelle: Salzburger Festspiele / Marco Borrelli

Bildquelle: Salzburger Festspiele / Marco Borrelli

Der erste Tag endet so: einsam am Bahnsteig. Nachts. Müde, verfroren und verfolgt von der Frage: Hat es sich wirklich gelohnt, das Konzert bis zum Ende durchzustehen, den letzten Zug zu verpassen und jetzt bis in den frühen Morgen in Salzburg festzuhängen? Die Antwort kommt zwar widerwillig, aber: Ja, dieses Konzert war es wert. Denn was der Los Angeles Masters Chorale aus Orlando di Lassos letztem Werk gemacht hat, den "Lagrime di San Pietro", das ist so belebend, auf einfache Weise berührend, dass man keine Minute davon verpassen wollte. 21 Sänger, die den Text gleichzeitig singen und darstellen – einer Choreographie folgend, die sich Peter Sellars ausgedacht hat. Nichts Spektakuläres: Die Gesten, mit denen der Chor die Geschichte vom dreifachen Verrat des Petrus und seinen Gewissensqualen erzählt, sind an sich trivial. Wenn es traurig wird, sinken die Köpfe in die Hände. Die Scham zwingt den Chor auf die Knie. Und die Wiederbegegnung mit Jesus wird als Umarmungsorgie inszeniert. Zugegeben, im ersten Moment muss man da ein bisschen an Schultheater denken. Erst mit der Zeit zeigt sich: Je gewöhnlicher die Geste, umso erkennbarer wird die Person hinter ihr. Auf einmal nimmt man sie wahr: seine Steifheit, ihre Sanftheit, seinen Ausdruckswillen, ihre Kraft. Mit einfacheren Mitteln könnte man nicht zeigen, dass ein Klangkörper viele sind. Ein Bild, das übrigens hervorragend zur Musik Lassos passt, deren Harmonie durch komplexe Mehrstimmigkeit entsteht. Standing Ovations in der Kollegienkirche.

Schostakowitsch, Schnittke und Pärt

Arvo Pärt bei den Salzburger Festspielen 2019 | Bildquelle: © Salzburger Festspiele/Marco Borrelli Arvo Pärt bei den Salzburger Festspielen 2019 | Bildquelle: © Salzburger Festspiele/Marco Borrelli

Die gab's auch schon beim Konzert davor im großen Saal der Stiftung Mozarteum. Schostakowitsch, Schnittke und Pärt standen auf dem Programm. Letzterer sogar auf der Bühne, wo ihm ein sichtlich bewegter Howard Arman zusammen mit dem Chor des Bayerischen Rundfunks ein Ständchen widmete. Als Dank für sein Werk, aus dem im Konzert gleich zwei Beispiele erklungen waren: Magnificat und Miserere. Gesungen vom Chor des Bayerischen Rundfunks unter der Leitung ebenjenes Howard Arman. Und wer Pärt bislang nur von diversen ECM-Aufnahmen kannte, der dürfte überrascht gewesen sein: So direkt und griffig klang die Musik des Esten an diesem Abend. Das mag auch an der Saalakustik gelegen haben. Im relativ kleinen "Großen Saal" des Mozarteums schweben die Klänge eben nicht so smooth ineinander wie in einer Kirche. Stattdessen: erfrischende Klarheit!

Sakrale Synthiesuppe in der Salzburger Kollegienkirche

Ganz anders am Tag danach: Jordi Savall und sein Originalklangensemble Hèsperion XXI gaben John Dowlands "Lachrimae"-Zyklus zum Besten. Unglücklicherweise in der Kollegienkirche, die so überakustisch ist, dass Dowlands schlanke Tänze eher nach sakraler Synthiesuppe klangen. Schade, man hätte gerne gehört, wie Savall und seine Kollegen ihre historischen Instrumente zum Sprechen bringen. Doch deren Klang gingen unter im immergleich wabernden Soundnebel.

Igor Levits überzeugende Trauerdarstellungen

Der Unterschied zum Konzert von Igor Levit im Mozarteum, wenige Stunden zuvor, könnte größer nicht sein. Trauermusiken von Liszt und Busoni standen auf dem Programm. Von Levit – sieht man von einer Klatschpause ab – wie aus einem Guss dargeboten: Mit großem Ernst und bewundernswerter Klangfantasie. Von grollendem, sich überschlagendem Bassgedonner bis hin zu samtweich tröpfelnden Glöckchenklängen, von wütendem Wehklagen bis zu stummen Tränen – so völlig unterschiedlich kann sich Trauer äußern. Großer Applaus!

Markus Hinterhäuser - Intendant und Musiker

Intendant Markus Hinterhäuser | Bildquelle: © Salzburger Festspiele / Franz Neumayr Markus Hinterhäuser | Bildquelle: © Salzburger Festspiele / Franz Neumayr

À propos tolle Pianisten, ein weiterer darf nicht unerwähnt bleiben: Intendant Markus Hinterhäuser, der am Sonnabend zusammen mit dem Bratscher Antoine Tamestit Schostakowitschs letztes vollendetes Werk auf die Bühne brachte, die Sonate für Viola und Klavier. Sicher, was Hinterhäuser machte, besaß nicht dieselbe vibrierende Spannkraft, kannte keine Springteufelmomente wie das Spiel von Igor Levit. Den solistischen Part überließ er dem Kollegen Tamestit, insbesondere im veitstanzartigen zweiten Satz. Als Begleiter, als im Hintergrund wirkender Klangmaler zeigte er sich jedoch unübertroffen, bestach durch zurückhaltende Eleganz, die Werk und Kollegen gleichermaßen diente. Sollte der Intendant Hinterhäuser diese Eigenschaft mit dem Musiker Hinterhäuser teilen, muss man sich um die Zukunft der Salzburger Festspiele keine Sorgen machen.

Kaum Frauen auf der Bühne

Nur eines irritiert: Es sind kaum Frauen vertreten bei der Ouvertüre der Salzburger Festspiele. Zur Ehrenrettung des Festivals mag man anführen, dass das Tränenthema dem jammernden, sprich männlichen Teil der Schöpfung einfach näher ist. Und trotzdem die Bitte: Ein bisschen mehr Abwechslung im nächsten Jahr!

Die Salzburger Festspiele auf BR-KLASSIK

Alle Informationen zu den Live-Übertragungen der Salzburger Festspiele und aktuelle Kritiken, finden Sie hier.

Sendung: "Leporello" am 23. Juli 2019 um 16:05 Uhr auf BR-KLASSIK

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