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Begegnungen beim Birdland Radio Jazz Festival in Neuburg Töne, die das Leben schreibt

Ganz nah an den Musikern: Das ist man bei dem Festival, das der Jazzclub Birdland in Neuburg an der Donau jeden Herbst veranstaltet. Und auch nah an ungewöhnlichen Personen. Und überall zeigt sich, wie sehr das Leben die Töne prägt - ob bei Gitarrist James Blood Ulmer, Pianist Aruán Ortiz und Klarinettist Rolf Kühn

Jazzklarinettist Rolf Kühn | Bildquelle: Harald Hoffmann

Bildquelle: Harald Hoffmann

Prägnantes Erlebnis in den letzten Tagen: James Blood Ulmer reckt die Heavy-Metal-Hand ins Publikum: "Your's truly James Blood". Daumen, Zeigefinger und Kleiner Finger ausgesteckt, Schweiß tropft ihm von der Stirn, er atmet schwer. Gerade sind die letzten Töne von "Are you glad to be in  America" verklungen. Klänge, die ruppig und rau sind. Klänge, die aus einer vergangenen Zeit scheinen und doch aktueller denn je sind. Eine wilde, verzerrte, auch rumpelnde und nicht immer ganz präzise Musik spielt Ulmer. Aber die Gitarre ist nur ein Werkzeug, andere spielen Klavier, Schlagzeug, Trompete, sie singen, sie murmeln, sie schreiben, aber sie drücken aus, was in ihrem Herzen ist. Es geht nur darum – wie wir dann auch nachdrücklich erfahren, als wir mit dem Musiker sprechen.

"Why don’t you have some easy questions?"

Gitarrist und Sänger James Blood Ulmer | Bildquelle: dpa - Report Bildquelle: dpa - Report Die Blues-Hymne über Amerika stellt eine Frage, die James Blood Ulmer, 74, der große Gitarrist und Sänger des sogenannten Free-Funk, im Interview nicht beantworten möchte. "I'm in Germany right now", sagt er und lacht. Von 1980 ist dieses Stück. Ob seine Musik sich, wie auch die Gesellschaft, im Laufe der Jahre verändert habe, fragen wir. "Keine so schweren Fragen! Habt ihr keine einfache Frage", sagt er und lehnt sich in seinem Ledersessel zurück. "Warum quält ihr mich?" Ulmer liegt nichts an einem intellektuellen Diskurs über seine Musik; denn seine Musik ist Existenz: Sie ist, wie sie ist, und sie muss nicht weiter erläutert werden. Wann denn für ihn die Gitarre eine Rolle zu spielen begonnen habe, fragen wir ihn. Es habe bei ihm zuhause immer eine gegeben, sagt er. Aber fragt mich doch mal nach meinem Leben, fordert er uns leise murmelnd auf. Man habe doch erst ein eigenes Leben, wenn man aus dem Elternhaus weggezogen sei. Er ging nach Pittsburgh/Pennsylvania, zog zu einer Cousine. Die meinte irgendwann, er müsse jetzt aber mal einen Job suchen und Geld nach Hause bringen. Er meinte, wieso Job? Er könne doch auch Geld beschaffen, ohne einen Job anzunehmen. Und sie: Ja, solange er es nicht stehle. „And that's when I started to play guitar. That's when I started my life“.

Tradition und Verantwortung

Impressionen | Bildquelle: Ssirus Pakzad Bildquelle: Ssirus Pakzad Ganz anderes Erlebnis am Abend zuvor – mit dem kubanischen Pianisten Aruán Ortiz. Andere Generation, völlig andere Geschichte, erst recht andere Töne. Als James Blood Ulmer mit seinen Gitarren-Prankenhieben einen neuen Sound in die Musikwelt brachte, war Ortiz zwischen fünf und zehn. 1973 wurde er in Santiago de Cuba geboren, heute lebt er in Brooklyn, hat aber auch viel in Barcelona und Paris gearbeitet. In der New Yorker Szene ist er seit Jahren ein gefragter Musiker. Er hat unter anderem auf dem Debüt-Album der gefeierten Bassistin und Sängerin Esperanza Spalding gespielt. Ortiz schreibt außerdem auch Musik für Kammerorchester und für Ballett-Aufführungen: ein Pianist und Komponist mit umfassender Ausbildung. Uns gegenüber sitzt im Interview ein kleiner, ungemein aufmerksamer Mann mit perfekt sitzendem, silbergrauem Jackett und bestens dazu passender roter Hose. Ein Gesprächspartner, der sich als jemand erweist, der Spaß daran hat, Überlegungen anzustellen über Töne und musikalisches Handwerk.

Besonders beeindruckend: Da spricht ein Musiker, der als „latest Cuban wunderkind to arrive in the United States“ hochgelobt wurde und der die vertracktesten rhythmischen Dinge mit ganz leichter Hand zu zaubern weiß, davon, wie geehrt er sich fühle, die Tradition einer Musik wie dem Jazz weiterführen zu dürfen – und seinen Beitrag in dieser „Art form“, wie er sagt, zu leisten. Zudem sei er beeindruckt von einem Club wie dem Birdland Neuburg, an dessen Wänden edel gerahmte Fotos weltberühmter Musiker wie Freddie Hubbard, Charles Lloyd, Gerry Mulligan, Lee Konitz oder Elvin Jones versammelt sind – Fotos selbstverständlich, die über die Jahrzehnte hier geschossen wurden. Er spüre eine große Verantwortung, an einem Ort wie diesem zu spielen, und das sporne ihn auch besonders an. Ein Musiker, der offen kommuniziert – mit seinem jeweiligen Gegenüber, seinem Publikum (dem er jeweils am Ende eines energiegeladen von einem Stück zum nächsten führenden Sets sagt, was alles gespielt wurde) und mit der Geschichte der Musik-Stile, die ihn geprägt haben.

Ein Gentleman des Jazz

Ein ungemein gelassener, in aller Ruhe sprechender Mann mit gescheitelten dunkelbraunen Haaren und stetem Schmunzeln im Gesicht. Wenn er erzählt, wird Musikgeschichte lebendig. Und eine vielfältige persönliche Geschichte. Rolf Kühn, Bruder des ebenfalls weltberühmten Pianisten Joachim Kühn, wuchs in einer Artistenfamilie in Leipzig auf – und war ein einziges Mal auch zusammen mit seinem Vater als Zirkus-Artist aktiv. Doch er entschied sich sehr bald für die Musik, in der er eine ungewöhnliche Karriere gemacht hat. 1954 gewann er einen europäischen Wettbewerb als „bester Jazzklarinettist“, 1956 zog er nach New York, wo er mit der Sängerin Caterina Valente auftrat - und später in den berühmten Big Bands von Benny Goodman und Tommy Dorsey spielte. Jemand, der als Klarinettist von einem Weltstar wie Benny Goodman auch als Solist in dessen Orchester präsentiert wird – das ist eine Seltenheit. 1962 ging Rolf Kühn nach Europa zurück, hat die Jahre des Rockjazz und Free Jazz stark mitgeprägt. Außerdem war er unter anderem musikalischer Leiter am Berliner Theater des Westens.

Immer neugierig

Erst vor kurzem hat eben dieser Rolf Kühn eine vielbeachtete neue CD („Spotlights“, MPS) veröffentlicht, in der er mit Musikern wie dem brasilianischen Mandolinen-Virtuosen Hamilton de Holanda und den Klassikstar Albrecht Mayer, Solo-Oboist der Berliner Philharmoniker, zusammenspielt. In Neuburg an der Donau war er mit seiner „Unit“ zu erleben, einer Band, in der er mit Kollegen zusammenarbeitet, von denen wzei mehr als 50 Jahre jünger sind als er: unter anderem der Schlagzeuger Christian Lillinger, der zu den jungen deutschen Jazz-Überfliegern der letzten Jahre gehört. Rolf Kühn findet, dass es zwischen ihm und den Jungen überhaupt keine Generationen-Kluft gibt. Er sagt, die Jahre spielen keine Rolle: „Es sind nur Zahlen, die da bestehen, und die finde ich völlig uninteressant, ehrlich gesagt.“ Vier junge Typen, die einfach neugierig sind und Freude aneinander haben: Das ist die Quintessenz dessen, was Kühn im Interview über diese Band sagt – und zwar zugleich mit Augenzwinkern und echtem Ernst. Denn dieser 1929 geborene Klarinettist ist einer, der immer noch höchst gespannt auf jeden neuen Ton ist.

Eigentlich, auch das wird man im Interview-Auszug mit diesem Musiker in der Live-Sendung aus Neuburg an der Donau auf BR-Klassik hören, wollte Rolf Kühn einst Konzertpianist werden. Er übte viel und wurde aufs Improvisieren gestoßen, als er von der Choreographin Mary Wigman als Musiker engagiert wurde. Er fragte sie nach den Noten – und sie sagte: Es gebe keine. Da musste er aus dem Moment schöpfen. Und tat es – was seine künftige Karriere prägen sollte. Zur selben Zeit spielte er aber auch Harmonium bei Beerdigungen: Aufregende erste Schritte eines später sehr großen Jazzmusikers.
Töne, die das Leben schreibt.

19. November 2016, 22.05 bis 24 Uhr: Jazztime extra

Live aus Neuburg an der Donau, unter anderem mit Jilman Zilman featuring Jesse van Ruller, der Rolf Kühn Unit und Roberta Gambarini mit Band.
Moderation: Ulrich Habersetzer und Roland Spiegel

Gleich anschließend auf Bayern 2:

20. November 2016: radioJazznacht

Live aus dem Birdland Neuburg: Musik vom 6. Birdland Radio Jazz Festival. Mit Musik von Reis- Demuth – Wiltgen, dem Aruan Ortíz Trio, dem James Carter Organ Trio und dem James Blood Ulmer Trio. Sowie Interviews und Hintergründen. (Direkt anschließend an die Sendung auf BR-Klassik vom 19. November.)
Moderation: Ulrich Habersetzer und Roland Spiegel

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