Sie ist eine sanfte Subversive. Ihre Stücke sind feine Verweigerungen von Erwartetem. Noch immer. Die Pianistin und Komponistin Carla Bley, an einem 11. Mai in Oakland, Kalifornien, geboren, feiert heuer ihren 85. Geburtstag. Eine Hommage von Roland Spiegel.
Bildquelle: picture alliance / Prokop Ivan/CTK/dpa | Prokop Ivan
Es gibt Konzerte, die vergisst man einfach nicht mehr. Wie etwa jenes, das die Pianistin Carla Bley im Herbst 2019 beim Festival "grenzenlos" in Murnau gab. Eine leise Intensität, wie sie es nur ganz selten gibt, stellte sich da ein. Mit vorsichtigen Schritten war die Musikerin an der Hand ihres Bassisten und Lebensgefährten Steve Swallow auf die Bühne gekommen, geschwächt von einer gesundheitlich schweren Zeit: Beide ganz in Schwarz, sie mit der am Kinn abgeschnittenen Mähne, die man von ihr kennt – und die inzwischen nicht mehr blond, sondern weiß ist -, und er mit weiß umkränzter, sehr hoher Stirn. Die beiden sind seit Jahrzehnten ein berühmtes, weltweit verehrtes Paar des Jazz, und in diesem Moment gaben sie ein Bild besonderer Innigkeit ab.
Das Carla Bley Trio bei einem Konzert am 13. Oktober 2019 in Murnau. | Bildquelle: Roland Spiegel
Als sie dann anfingen zu spielen, im feinfühligen Trio mit dem Saxophonisten Andy Sheppard, verwandelte sich die Innigkeit in eine ganz selten so zu erlebende musikalische Konzentration. Die leisen, subtil gearbeiteten Kompositionen Carla Bleys strömten in warmtönend-funkelnder Präzision auf ein Publikum zu, das 100 Minuten lang in nie sonst so auffällig gebannter Stille lauschte. Musik, die wie eine mit ganz leiser Stimme gesprochene Erzählung voller blitzender Formulierungen wirkte – und in der das Gefühl einer Nähe und Substanzhaltigkeit enstand, die die Zeit aufzulösen schienen.
Meine Stücke versuchen nicht, Geschichten zu erzählen. Sie tun es.
Eine tiefer berührende und dabei bewusst unspektakulärere Kunst kann man im zeitgenössischen Jazz nicht erleben. Das Hauptstück aus dem geschilderten Konzert (und ihres jüngsten Albums) heißt "Life Goes On". Es besteht aus vier Sätzen. Der erste heißt wie das ganze Stück. Der zweite: "On". Der dritte: "And On". Und der vierte: "And Then One Day". Das zeigt den feinen, hintersinnigen Humor, der ein besonderes Kennzeichen von Carla Bley ist. Ein anderes ihrer jüngsten Stücke war auf den 2019 amtierenden und inzwischen abgewählten amerikanischen Präsidenten gemünzt – angekündigt mit dem Hinweis, dass der Titel des Stücks aus jenen Worten bestehe, die der Neugewählte einst beim Betreten seines Büros im Weißen Haus ausgerufen habe: "Beautiful Telephones!" Und die Musik treibt daraufhin ein vergnügt-ironisches Spiel mit lauter amerikanischen Klischees: von "Glory, Glory Hallelujah" bis "My Way". Im Interview darauf angesprochen, dass ihre Stücke oft versuchten, Geschichten zu erzählen, sagte Carla Bley trocken und mit einem Grinsen: "Sie versuchen es nicht, sie tun es."
Carla Bley spielt am 20. Juli 1984 am Montreux Jazz Festival. | Bildquelle: picture alliance/KEYSTONE | STR
Am 11. Mai 1936 wurde Carla Bley als Lovella May Borg in Oakland, Kalifornien, geboren. Sie hieß ursprünglich Borg. Klingt schwedisch. Und das war der Name auch. Lovella May Borg, später Carla Borg, wurde als Tochter eines Musikerpaars schwedischer Abstammung geboren. Ihr Vater Emil war Kirchenorganist. Sie selbst lernte schon als Kind Orgel und Klavier. Viele Jahre später heiratete sie den Pianisten Paul Bley. Nach der Scheidung blieb sie bei dem Namen, mit dem sie berühmt geworden war: Carla Bley.
Zum Jazz kam sie über einen Umweg. Als sie ihr Elternhaus verlassen hatte, um nach New York zu ziehen, arbeitete sie eine Zeitlang als Zigarettenverkäuferin unter anderem im berühmten Birdland-Jazzclub. Auch Stofftiere habe sie da von einem Bauchladen aus angeboten, erzählte sie in einem Interview. Und in der Garderobe von Jazzclubs wie Basin Street, Jazz Gallery und Birdland jobbte sie. "Ich liebte einfach die Musik – und dachte gar nicht, dass ich je ein Teil davon werden könnte", sagt Carla Bley. Sie habe einfach die Atmosphäre in den Clubs genossen. Auch Fotos schoss sie, wenn sie an der Garderobe gerade nicht gebraucht wurde, und saugte die Musik, die auf der Bühne gespielt wurde, in sich ein. Teil der Szene wurde sie dann durch den Pianisten Paul Bley, den sie bei ihrer Arbeit als Cigarette Girl kennenlernte und 1957 heiratete. Er brauchte Stücke für seine Konzerte. Und sie schrieb welche für ihn.
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EOTH Escalator Over The Hill Carla Bley "WHY"
Bald spielte aber auch sie selbst In New York mit diversen Musikern der Jazz-Szene zusammen. Mit dem Trompeter und Komponisten Michael Mantler, der später ihr zweiter Ehemann wurde, gründete sie 1964 das "Jazz Composer's Orchestra". Aus diesem Pool von Musikern fanden dann auch diejenigen zusammen, die im aufwändigsten Werk von Carla Bleys Karriere zu hören waren: in der Jazz-Oper "Escalator Over The Hill". In drei Jahren, von 1968 bis 1971, entstanden die Aufnahmen dafür – und beteiligt waren Jazz-Größen von Don Cherry über Charlie Haden bis Gato Barbieri, Enrico Rava und John McLaughlin, Popstars wie die Sängerin Linda Ronstadt und Rockgrößen wie Bassist Jack Bruce. Der Dichter Paul Haines hatte die Texte zu "Escalator Over The Hill" geschrieben: einer Szenenfolge um verschiedene Personen, die in einem Hotel in Indien zusammengefunden hatten.
Die Musik der damals knapp über dreißig Jahre alten Bandleaderin und Komponistin brachte Rock und Jazz sowie Musiktheater-Reminiszenzen an Komponisten wie den Deutschen Kurt Weill auf einen Nenner. Und: Das Werk war zunächst unaufführbar. Erst 26 Jahre nach Veröffentlichung des Albums gab es Live-Versionen, übrigens in Köln und Essen. Man kann "Escalator Over The Hill" daher als ein "Sgt. Pepper" der Jazzgeschichte betrachten: ein künstlerischer Wurf, der Genre-Grenzen überwand und seiner Zeit weit voraus war.
Ich mag es, wenn ich mich selbst künstlerisch erfreuen kann.
Schon während der Arbeit an "Escalator Over The Hill" war Carla Bley als Arrangeurin maßgeblich beteiligt an einem weiteren Album, das zu den bedeutendsten der modernen Jazzgeschichte gehört: "Liberation Music Orchestra" von Bassist Charlie Haden und einer groß besetzten Band aus dem Jahr 1969. Carla Bley schrieb die meisten Arrangements dieser versammelten Stücke aus dem politischen Widerstand in unterschiedlichen Teilen der Welt – dem Spanien unter General Franco zum Beispiel. Eine Künstlerin mit Haltung. Werke mit sehr ernstem Hintergrund sind oft ihre schönsten Kompositionen. Das trifft besonders auf "Útivklingssang" zu, ein erstmals 1981 aufgenommenes Stück, das sich auf ein Staudammprojekt bezog in Norwegen bezog, das einen heftigen Einschnitt in die Natur bedeutete. Die zarten Töne klingen wie ein Nachruf auf Zerstörtes.
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Carla Bley | Boo to you too
Eher selten sind die Botschaften Carla Bleys auch mal ganz direkt. Etwa 1979 bei den Berliner Jazztagen (heute "Jazzfest Berlin"), wo sie mit ihrer zehnköpfigen Band auftrat. In jener Zeit war die Zuhörerschaft des Festivals sehr bekannt für besondere Buhfreudigkeit. Carla Bley sandte in ihrem Konzert eine lässig-deutliche Botschaft ans Publikum: "Boo to you too". Im Text zu diesem Song hieß es: "Keep your chin up, play what you feel. Music’s always grand if it’s real." Also: "Kinn hoch, spiel, was Du fühlst, authentisch muss die Musik sein, dann ist sie gut". Carla Bley wirkte stets authentisch, in vielen Kontexten – und viele Jahre war sie mit ihren Großbesetzungen eine Attraktion auf vielen Festivals. Ihre Big Band und auch die 18-köpfige "Very Big Carla Bley Band" war viele Jahre lang eine zu Recht gefeierte Institution des prachtvoll-unterhaltsamen und doch hintersinnig-feinen Zusammenspiels vieler Weltklasse-Musiker.
Carla Bley hat sowohl Werke für kleine kammermusikalische Besetzungen als auch für große Big Bands veröffentlicht. | Bildquelle: Carla Bley
Sie möge es, das Publikum zu überraschen, sagt sie. "Ich überrasche mich auch selbst gern. Oder besser: Ich mag es, wenn ich mich selbst künstlerisch erfreuen kann." Auch sei sie ihr wichtigster künstlerischer Richter. Einer – das muss man sagen – mit sicherem Gespür für Qualität. Ihre Kompositionen sind Kleinode voller versteckter Schönheiten. Als Pianistin ist sie sehr zurückgenommen: Sie spielt zart und sparsam, in einem bewusst reduzierten Vokabular, hält sich dabei oft streng an ihre Noten, weil sie sich auf ihr improvisatorisches Talent nicht verlassen möchte: tastende Behutsamkeit. Auf die Frage, ob sie lieber spiele oder lieber Noten schreibe, sagte sie einmal – mit bewusstem Einsatz der Vergangenheitsform: "Ich ziehe es vor, Noten niedergeschrieben zu haben. Und Töne gespielt zu haben. Insgesamt ist mir das Geschrieben-Haben lieber als das Gespielt-Haben. Denn von diesem Kitzel hat man länger etwas." Typische Sätze von Carla Bley, dieser Meisterin des Subversiven und sanften Anarchistin, dieser Feinarbeiterin der nicht-angepassten Töne.
Wenn ich komponiere, bin ich der Boss.
Oft lässt sich Carla Bley Monate Zeit für ein neues Stück. Sie dreht und wendet kleine Motive, verarbeitet sie, reduziert sie wieder, bringt sie in Form, bis es die oft schlicht wirkende und dabei ungemein raffinierte Gestalt hat, die man von ihren Arbeiten kennt. Immer ganz eigene Kontur, immer melodische Leuchtspuren: So kennt man sie von ihren vielen berühmten Big-Band-Kompositionen und ebenso von den edlen kammermusikalischen Aufnahmen der letzten Jahrzehnte. Eine harte Arbeit sei das Komponieren, sagte sie in einem Interview auch. Aber sie mache diese Arbeit gern. Denn: "Das wirkliche Leben passiert einem. Aber wenn ich komponiere, bin ich der Boss. Ich kann selber alles entscheiden. Das gefällt mir."
Sendungen auf BR-Klassik:
"Carla Bley zum 85. Geburtstag"
"Allegro" am 11. Mai 2021 ab 06:05 Uhr
"In jedem Takt ein Augenzwinkern. Musik von und mit der Pianistin und Jazzkomponistin Carla Bley"
"Jazztime" am 11. Mai 2021 ab 23:05 Uhr
Kommentare (1)
Donnerstag, 13.Mai, 11:04 Uhr
Bea.e Schwär.ler
Carla Bley - die sanf.e Anarchis.in -mi. 85 Jahren
Mei, wenn meine Oma noch leb.e - .u gerne würde ich ihr dieses feinsinnige, vergnügliche Por.rai. von Carla Bley vorlesen. Sie hä..e ihren Spaß daran gehab. .
Antwort BR-KLASSIK: Liebe Frau Schwärzler, das Lob freut uns sehr. Uns ist aufgefallen, dass Sie statt T und Z immer einen Punkt schreiben. Haben Sie eventuell ein technisches Problem mit Ihrer Tastatur?