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Jazzfest Berlin - Der Interview-Marathon Nur 20 Minuten bitte!

Beim Jazzfest Berlin gibt es jedes Jahr Jazzgrößen zu erleben, die sonst selten nach Europa kommen. Eine Gelegenheit, viele spannende Interviews zu führen. Das ist aber eine logistische und konditionelle Herausforderung. Ulrich Habersetzer ist zum Interview-Speed-Dating aufgebrochen.

Bildquelle: Camille Blake

Berlin ist eine große Stadt. Man kann hier Stunden in der U-Bahn verbringen, um von einem Ende der Stadt ans andere zu kommen. Selbst der Stadtteil Charlottenburg ist groß, einmal über den Kudamm spazieren, das macht man nicht in ein paar Minuten.

Führt man Interviews während des Jazzfests Berlin, spürt man diese Größe am eigenen Leib, und zwar in den Beinen. Schnell von einem Hotel zum anderen, der Künstler hat keine Lust zu warten. Als Interviewer muss man das oft.

Erstes Date: Mette Henriette

Meine diesjährige Jagd nach jazzenden Gesprächspartnern beginnt im Mark Hotel. Mette Henriette heißt die Dame, hat Ende letzten Jahres eine beeindruckende CD vorgelegt und gilt als nicht ganz einfach bei Interviews. Woher diese Information kommt, keine Ahnung. Irgendjemand aus der Szene.

Also fünf Minuten früher in der Lobby sein, man weiß ja nie. Die Pressesprecherin des Jazzfests ist schon da. Mette verspätet sich. Ein kleines, etwas unscheinbares Mädchen kommt. Ein Büro ist frei. Nein, lautet die Antwort von der Rezeption, man könne die Hintergrundmusik nicht ausschalten. Also singt Frank Sinatra, während Mette Henriette über ihre musikalischen Anfänge in einer Trondheimer "Marching Band" berichtet.

Bildquelle: BR Sie ist schon so eine nordische Elfe, spricht leise, und sagt, sie habe zehn Jahre an manchen ihrer Stücke gearbeitet, bis sie die richtigen Sounds fand, die sie schon so lange im Kopf hatte. Sie ist Jahrgang 1990.
Dann ein Foto, schnell, mit dem Smartphone. Sie zuckt fast zusammen. Nee, das hätte sie jetzt nicht so gerne, da sei sie heikel. Kein Wunder, ihre Cover-Bilder hat der legendäre Musiker-Fotograf Anton Corbijn gemacht. Auf meinem Bild dann halt nur der leere Stuhl.

Zweites Date: Anna-Lena Schnabel

Bildquelle: BR Aber gleich weiter, wieder eine junge Saxophonistin, diesmal aus Deutschland: Anna-Lena Schnabel. Sie hat nach dem Soundcheck im Haus der Festspiele Zeit. Persönliches kommt dabei raus: Sie musste von Tenor- auf Altsaxophon wechseln, kurz bevor sie ihr Studium begann, wegen massiver Rückenprobleme. Fast wütend wird sie über die Situation in Hamburg, wo sie lebt. Als freiberufliche Musikerin bekommt sie keine Wohnung. Sie wolle nicht die Miesmacherin sein, aber man muss sowas ansprechen dürfen. Oft werden die kritischen Sachen rausgeschnitten, ihre Erfahrung bei Interviews.

Drittes Date: Michael Schiefel

Bildquelle: Stefanie Marcus Gleich beginnt das Abendkonzert, vorher geht aber noch ein kurzes Interview. Sänger Michael Schiefel trat am Vorabend mit einem Hanns-Eisler-Programm auf. Vertonte Gedichte, die fast alle von Bertolt Brecht stammen, entstanden im amerikanischen Exil. Absolut zeitgemäß, findet Schiefel die Texte. Und schwer zu singen, diese Moderne Musik aus der Mitte des 20. Jahrhunderts. Er hat das Zeug dazu. Aber freie Improvisationen zwischen den Stücken bringen Luft rein. Es klingelt. In 15 Minuten fängt das heutige Konzert an. Mist, Foto vergessen, aber das können wir am späten Abend durch professionelle Unterstützung noch nachholen.

Viertes Date: Wadada Leo Smith

Nächster Tag, erster Termin: Wadada Leo Smith, amerikanische Ikone des freien Jazz. Sein Konzert gestern war eine Erneuerungskur für die Ohren.

Bildquelle: Camille Blake Wieder ist der Zeitplan eng. Nur 20 Minuten bitte. Und das bei einem Musiker, der seit fast fünf Jahrzehnten Jazzgeschichte schreibt. Na los, die Zeit läuft. Seine Sprache ist voll Wärme und Herzlichkeit, umso ärgerlicher, dass die Zeit so schnell verrinnt. Dann ein Satz, für den sich viele Wege und Umstände lohnen: "Die Bühne ist das Paradies, und das Leben ist Arbeit und Anstrengung. Aber der Moment, in dem man die Bühne betritt, das ist ein goldener Moment". Danke! Da klopft es schon an der Tür, noch schnell das Selfie und weiter.

Knapp 15 Minuten von einem Hotel zum anderen. Jetzt aber los.

Fünftes Date: Ingrid Laubrock

In der Lobby steht sie schon: Ingrid Laubrock, Saxophonistin. Sie plaudert mit jemandem. Ich stelle mich dezent daneben. Nicht zu nah, nicht zu schnell unterbrechen. Die Stimmung soll ja gut sein.
Dann sagt sie zu ihrer Gesprächspartnerin: "I'm waiting for somebody". Das bin ich. Vorstellen, immer die gleichen Sprüche: Ich bin vom Bayerischen Rundfunk, wir haben eine ARD-weite Livesendung Samstagnacht mit Highlights vom Festival, dafür brauche ich Material.

Bildquelle: Camille Blake Ingrid Laubrock kommt aus einem kleinen Ort in Nordrhein-Westfalen, ganz nah an der holländischen Grenze. Da musste sie weg nach der Schule. Zuerst kurz nach Berlin, dann für 19 Jahre London, seit sieben Jahren lebt sie in Brooklyn, New York.
Alle seien genervt dort von dieser unsäglichen Präsidenten-Wahl. Es soll endlich vorbei sein und natürlich, sie kennt keinen einzigen Musiker, der Trump wählen würde. Jetzt muss sie aber los, Probe für den Abend, sie hat noch nie mit der Pianistin Aki Takase zusammengespielt. Wird spannend.

Sechstes Date: Myra Melford

Weiter zum Haus der Festspiele, gleich die Straße runter, aber auch nur noch sechs Minuten. Myra Melford, Pianistin aus Illinois, wartet schon in ihrer Garderobe. Ob sie noch schnell was essen darf? Klar, ich muss sowieso die Speicherkarte wechseln. Ein schönes Gespräch über Struktur und Freiheit in der Musik. Über ihre Kompositionen und über den hohen Anteil von weiblichen Musikern bei diesem Jazzfest. Es sollte einfach so sein. Nicht drüber diskutieren, nicht extra unterstreichen, sagt sie. Aber jetzt muss sie schlafen. Um Mitternacht ist sie ins Bett gegangen in Belgrad und um 4 Uhr früh los zum Flughafen.

Siebtes Date: Ryan Carniaux

40 Minuten Zeit bis zum nächsten Interview. Was für eine Erholung. Der Trompeter Ryan Carniaux ist der nächste. Er spielt ganz lyrisch und fein, tritt heute aber zum zweiten Mal mit den Free-Jazz-Giganten des Globe Unity Orchestras auf. Ein schneller Blick zum Soundcheck. Ryan ist nicht da. Ich kenne ihn vom Sehen.

Der Soundcheck ist um, die Kollegen wissen nichts. Der Chef der Band, Alexander von Schlippenbach holt sich in der Kantine eine Erbsensuppe. Bevor er den Löffel in die Hand nimmt, schnell die Frage: Kommt Ryan? Er hat seinen Zug verpasst, aber gleich ist er da. Aus gleich wird später und aus später wird "keine Ahnung wann er kommt".

Achtes Date: Alexander von Schlippenbach

Bildquelle: Camille Blake Saxophonist Joshua Redman und Pianist Brad Mehldau machen jetzt Soundcheck. Also eigentlich nur ihr Techniker. Fotografen warten auf die Stars, ich auf mein Gespräch mit Schlippenbach.Der Kollege vor mir ist früher fertig, toll, mehr Zeit.
Free Jazz und die heutige Gesellschaft, sein Klavierstil in einer Band mit 15 Bläsern und zwei Schlagzeugern. Wo geht es hin mit einem Ensemble, das 1966 gegründet wurde? Frage und Antworten. Danke fürs Gespräch, bin gespannt aufs Konzert. Die Tür geht zu. Mist, Foto vergessen, schon wieder.

Vielleicht klappt‘s ja nachher noch, und vielleicht taucht der verschollene Trompeter noch auf. Interview-Sammeln in Berlin: tolle Begegnungen, aber müde Füße.