Sein Name steht seit 1970 hinter dem Programm der Internationalen Jazzwoche Burghausen. Doch der gebürtige Münchner Joe Viera – gern genannt "Der Jazzprofessor" – ist noch viel mehr: Musiker, Pädagoge, Buchautor. Am 4. September wird der leidenschaftliche Jazz-Wegbereiter 90 Jahre alt.
Bildquelle: IG-Jazz Burghausen e.V.
Ein stets genüsslich schmunzelnder Mann mit der Vorliebe für karierte Jacketts und scharfsinnige, leise formulierte Gedanken: So kennt ihn das Publikum der Internationalen Jazzwoche Burghausen von seinen Bühnenansagen. Die sind Kult. Mit heller Stimme, unverkennbar oberbayerischem Akzent und völlig pathos-freiem Tonfall hat er dem Publikum in der kleinen Stadt an der Salzach bereits die halbe Jazzwelt vorgestellt: von Aki Takase bis Stéphane Grappelli, von Ella Fitzgerald bis Jan Garbarek. Zwei, drei kurze Sätze zu den Musikern – und dann gern mal ein Bonmot. Wie etwa beim Konzert der so exzellenten wie schwierigen Sängerin Cassandra Wilson im Jahr 2013. Sie dürfe nicht fotografiert werden, teilte er dem Publikum und den Pressefotografen im Saal mit – und fügte dann hinzu: "Aber mich dürfen S' fotografieren". Ein Mann, der um Auswege weiß.
Joe Viera, geboren am 4. September 1932 in München, ist Jazzmusiker, Arrangeur, Komponist, Buchautor, Dozent und jedes Jahr zu bestimmten Zeitabschnitten Wahl-Burghauser. Zum 51. Mal fand dieses Jahr die Internationale Jazzwoche in dem direkt an Österreich grenzenden 19 000-Einwohner-Ort Burghausen an der Salzach statt, seit langem Bayerns traditionsreichstes und bekanntestes Jazzfestival. Seit 1970 ist Viera dort Programm-Verantwortlicher.
Joe Viera zu Ehren wurde in der sogenannten "Street of Fame" in der Burghausener Altstadt eine Bronzeplatte verlegt. | Bildquelle: IG-Jazz Burghausen e.V.
Nur 2022, nach zwei Jahren Corona-Pause, war Joe Viera nicht während des Festivals in Burghausen zu erleben: zum ersten Mal in der Geschichte der Veranstaltung. Eine starke "Verspannung im Nacken- und Schulterbereich", so Viera gegenüber BR-Klassik, habe es ihm unmöglich gemacht zu reisen. Auf den Genuss seiner unverwechselbaren Bühnen-Ansagen mussten das Publikum und die Fans da verzichten. Auf andere Art spielte Viera dann bei diesem Festival doch noch eine besondere Rolle. Es wurde nämlich eine Bronzeplatte zu seinen Ehren in der sogenannten "Street of Fame" in der Altstadt verlegt und feierlich eingeweiht. Ihr Platz ist direkt vor dem sogenannten Mautnerschloss, einem historischen Gebäude, in dem der Jazzclub von Burghausen sein Domizil hat. Direkt neben der ersten von den Dutzenden inzwischen verlegten Platte liegt sie: Die erste, das war die für die große Sängerin Ella Fitzgerald. In dieser Nachbarschaft verewigt zu sein, ist eine besondere Würdigung.
Festival-Programmgestalter von 1970 bis 2022: Das ist eine beeindruckende Zeitspanne. Andere Festivalmacher halten, wenn sie sehr lange am Ball bleiben, zwischen 30 und 40 Jahren durch. Etwa der Programmgestalter des Nürnberger Festivals "Jazz Ost-West", Walter Schätzlein, kam auf 38 Jahre, aber sein Festival fand nur alle zwei Jahre statt. Burkhard Hennen vom New Jazz Festival in Moers am Niederrhein kam auf 34 Jahre. Claude Nobs in Montreux auf 46 Jahre, von 1967 bis zu einem Skiunfall im Jahr 2012, an dessen Folgen er starb. Immerhin George Wein, der Impresario des Newport Jazz Festivals, erreichte, wie Joe Viera es nächstes Jahr anstrebt, 52 Jahre an der Spitze seines Festivals, allerdings mit einer Unterbrechung in einer Krisenphase in den 1960er Jahren. Doch eine Unterbrechung gab es aufgrund des Corona-Virus auch bei Joe Viera, nur eben wesentlich später. Er wird sich also 2023 mit George Wein den Weltrekord als dauerhafter Festivalchef teilen. Aber auf diesem Podest ist er nicht in schlechter Gesellschaft.
Der Rekord eines überschrittenen halben Jahrhunderts als Festivalgestalter kam zustande, obwohl Joe Viera sich während seines allerersten Burghausen-Aufenthalts schwor: "Nie wieder Burghausen!" Als es das Festival noch nicht gab, im Herbst 1969, reiste Joe Viera mit Musik-Kurzfilmen durch Europa und hielt Einführungsvorträge – einen davon auch in Burghausen an der Salzach, auf Einladung von Helmut Viertl, der dort einen Jazzclub gegründet hatte. Beim leider nicht sonderlich gut besuchten Vortrag – man munkelt von sieben Besuchern – streikte der Projektor, und Viera saß währenddessen verlassen in einer Ecke. Am nächsten Tag ein weiteres Desaster: Viera wurde im Hotel festgehalten, weil er die Übernachtung nicht zahlte. Diese Rechnung sollte eigentlich das damalige Volksbildungswerk übernehmen, aber der Wirt bestand auf der direkten Lösung: Wer übernachtet hat, zahlt auch. "Meine Abneigung gegen Burghausen begann sich ins Unermessliche zu steigern", erzählte Viera später. Aber dann kam Jazzclub-Gründer Helmut Viertl, hauptberuflich Gerichtsvollzieher und geübt im Umgang mit säumigen Zahlern, beglich die Hotelrechnung, brachte Viera zum Bahnhof und erwähnte dabei, dass er gern einmal etwas Größeres mit Jazz in Burghausen aufziehen würde. Da redeten sich die beiden so fest, dass Joe Viera – laut eigener Schilderung – mehrere Züge abfahren ließ, bis er doch endlich in einen einstieg. Vom Waggon aus winkte er dann bei der Abfahrt aus dem Fenster und sagte: "Ich mach mit". So wurde die Internationale Jazzwoche Burghausen geboren.
Burghausens langjähriger Bürgermeister Hans Steindl, Jazzlegende Klaus Doldinger und Festivalchef Joe Viera | Bildquelle: IG-Jazz Burghausen e.V.
Inzwischen sind dort so viele Jazzweltstars aufgetreten, dass eine Liste jeden Rahmen sprengen würde. Hier aber einige: Ernestine Anderson, Dianne Reeves, Abbey Lincoln, Max Roach, Art Blakey, Dizzy Gillespie, Chet Baker, Dexter Gordon, John McLaughlin, Dave Brubeck, McCoy Tyner, Cecil Taylor, Abdullah Ibrahim, Esbjörn Svensson, Marcus Miller – und sehr viele andere mehr. Nicht zu vergessen: der Singer-Songwriter und Entertainer Jamie Cullum, der vom Jazz stark inspiriert ist und bereits zweimal in Burghausen bejubelt wurde: 2014 und bei der Jubiläums-Ausgabe 2019, als Stargast der 50. Internationalen Jazzwoche. Auch Nina Hagen sang dort ein Jazzkonzert. Und Paul Kuhn gab ein gefeiertes Konzert mit seiner Big-Band. Ein gutes Pflaster für Weltgrößen aller unterschiedlichen Ausprägungen des Jazz. Und die sind so unterschiedlich, weil der künstlerische Leiter Joe Viera sich für so viele unterschiedliche Arten von Jazz und Blues interessiert.
Die Art, wie der Programmchef dabei seine Herzensmusik präsentiert, ist legendär. Besonders schöne Geschichte: am 18. April 2002. Ein offenbar nicht ausverkauftes Konzert, denn in den vorderen Reihen war noch so mancher Platz frei. Also bat Joe Viera bei der Ansage das Publikum, nach vorn zu kommen. Aber nicht einfach mit einem so simplen Satz. Der Text dieser Ansage lautete so: "Liebe Zuschauer, mit jedem Meter, den Sie sich der Bühne nähern, steigt der atmosphärische Eindruck der Musik im Quadrat. Das geht nach der Formel A index m ist gleich Alpha multipliziert mit r hoch 2. Dabei ist A index m die Atmosphäre bezogen auf die Musik, Alpha ist der Fest-Koeffizient, und r ist der Abstand von Ihnen zu den Musikern. Diese Formel habe ich soeben erst erfunden, aber ich glaube, sie stimmt." So spricht nur Joe Viera.
Er studierte in München Physik, bis zum Abschluss, merkte aber dann schnell, dass er lieber Musiker werden wollte. Den Beruf des Physikers habe er nie ausgeübt, sagt er. Und: "Von der Physik habe ich das Denken gelernt, von der Musik das Fühlen." Die erste Begeisterung für den Jazz kam bei Joe Viera schon während seiner Kindheit in der Nazi-Zeit auf. Ganz früh interessierte ihn mehr als andere Musik diejenige von Schellack-Platten mit Tanzmusik, in der zumindest Spurenelemente des Jazz enthalten waren (was er damals natürlich noch nicht wusste).
Wir feiern Joe Vieras 90. Geburtstag in der "RadioJazznacht" am 4. September 2022 ab 0:03 Uhr auf Bayern2: Zwei Stunden mit Musik und Interview-Auszügen. Mit Aufnahmen unter anderem von der Riverboat Seven, dem Joe-Viera-Ed-Kröger-Quartett, der Joe-Viera-Wokshop-Combo, dem Stéphane-Grappelli-Quartett, dem Count Basie Orchestra, Bireli Lagrène und anderen. Moderation und Auswahl: Roland Spiegel.
Später dann, mit elf oder zwölf, lauschte er mit Hilfe einer selbstgebastelten Antenne – so etwas konnte der technisch interessierte Bub bauen, weil es im Haus ein Buch über Rundfunktechnik gab – diversen verbotenen Sendern. 1944 war das zum Beispiel Radio Bari aus Süditalien, wo bereits die amerikanischen Truppen angekommen waren. In diesem Sender lief die Musik von Swing-Big-Bands. Bereits vorher hatte er Instrumente gelernt, mit 7 Blockflöte, mit 9 Klavier – aber klassisch. Die ersten Jazz-Stücke, die er hörte, faszinierten ihn, weil da rhythmisch ganz ungewohnte Dinge passierten. Er sagt auch: Er habe diese Musik damals als "Lebensmittel" gebraucht. Während der Kriegsjahre lebte er immer in München. 72 Bombenangriffe habe er miterlebt. Und die Musik, die aus dem Land dieser sogenannten "Feinde" kam, habe ihm geholfen, diese Jahre durchzustehen.
Bis Joe Viera selbst Jazz spielte, dauerte es. Sein erstes richtiges Jazzkonzert erlebte er 1952 im Zirkus Krone, am Tag seiner letzten Abitur-Arbeit. Sein erstes Saxophon war ein Sopransaxophon. Ein Münchner Freund hatte eines gekauft, konnte aber dann doch nichts damit anfangen und bot es Joe Viera an. Der kratzte dann irgendwie das Geld dafür zusammen – 70 Mark in einer Zeit, in der die Halbe Bier in München noch 50 Pfennig kostete - und gründete gleich mit diesem Freund, der Gitarre spielen konnte, eine Band.
Im Laufe seines nun über sechs Jahrzehnte umspannenden Musiker-Lebens spielte Joe Viera höchst unterschiedliche Töne. Dixieland mit den Hot Dogs von 1955 bis 1957, danach ebenfalls Oldtime-Jazz mit der Riverboat Seven, in den Sechziger Jahren dann auch Free Jazz, unter anderem mit einem Mann am Bass, der später eines der bekanntesten Musiklabels der Welt gründen sollte: Manfred Eicher – der Kopf hinter dem 1969 gegründeten Label ECM. Wieder ein paar Jahre darauf hatte Joe Viera das erwähnte Quartett mit Ed Kröger und noch später ein Sextett, das eine brodelnd aktuelle Siebzigerjahre-Mischung spielte.
Volle Konzentration: Joe Viera lauscht einer Band beim Finale des Europäischen Burghauser Nachwuchs Jazzpreises. | Bildquelle: IG-Jazz Burghausen e.V.
Zur Jubiläums-Jazzwoche Burghausen 2019 kamen bisher rund 10.800 Besucher – ein Rekord. Vorsichtig geschätzt dürfte, 52 Jazzwochen zusammengenommen, auf jeden Fall eine Viertelmillion erreicht sein. Dazu hatten die Burghauser Jazzkurse, die Joe Viera 1972 gegründet hat und heute noch organisiert, in nunmehr fünf Jahrzehnten über 13 000 Teilnehmer. Durch diese Kurse gingen Musiker wie die beiden Gitarristen Helmut Nieberle und Helmut Kagerer, die Bassisten Thomas Stabenow, Dieter Ilg und Andreas Kurz, die Saxophonisten Roman Schwaller und Peter Weniger, die aktuellen deutschen Jung-Talente Julian und Roman Wasserfuhr - oder auch der Trompeter und heutige Professor für Jazz an der Hochschule für Musik und Theater in München, Claus Reichstaller – damals aber noch als Gitarrist.
Weit über Burghausen und München hinaus hat Joe Viera lauter kleine Jazz-Samenkörner verstreut. Er hat in Duisburg und Hannover an der Uni unterrichtet und tut es in München immer noch. Er hat etlichen Studenten die Kunst des Big-Band-Spiels nahegebracht. Er hat seine Lehrbücher geschrieben. Er wurde vom Goethe-Institut 1978 nach Afrika geschickt und 2000 nach China. Er war fast 40 Jahre lang im Vorstand der Union Deutscher Jazzmusiker. Nach wie vor wirft er sich in die Bresche für junge Jazzer, nicht zuletzt als Jury-Vorsitzender des Europäischen Nachwuchs-Jazzpreises Burghausen. Wie er von der Musik das Fühlen und von der Physik das Denken gelernt hat – so haben viele Menschen in Bayern von Joe Viera, dem Jazzprofessor mit den charakteristischen Jacketts, das Hören gelernt. Herzlichen Glückwunsch zu dieser großen Wirkung – und natürlich zum 90. Geburtstag!
Fans der Internationalen Jazzwoche Burghausen schätzen den künstlerischen Leiter des Festivals Joe Viera nicht nur für sein Programm, sondern auch für den besonderen Sound und Wortwitz seiner Ansagen. Unsere Top 5 aus Joe Vieras Bühnenansagen.
EINE FORMEL FÜR DAS BESTE KONZERTERLEBNIS
"Liebe Zuschauer, mit jedem Meter, den Sie sich der Bühne nähern, steigt der atmosphärische Eindruck der Musik im Quadrat. Das geht nach der Formel A index m ist gleich Alpha multipliziert mit r hoch 2. Dabei ist A index m die Atmosphäre bezogen auf die Musik, Alpha ist der Fest-Koeffizient, und r ist der Abstand von Ihnen zu den Musikern. Diese Formel habe ich soeben erst erfunden, aber ich glaube, sie stimmt." 18. April 2002
FOTOGRAFIEREN OHNE APPARAT
"Wir haben noch eine Bitte, wegen des Fotografierens, weil das eben doch sehr stört: Bitte fotografieren Sie ohne Apparat. - Wie? Ach so, ohne Blitz! Ja. Aber am besten ohne Blitz und ohne Apparat. Die Musiker werden es Ihnen danken." 8. März 2008
WER LANGE JAZZT …
"Heute haben wir einen Musiker zu Gast, zum zweiten Mal hier, der seinen 80. Geburtstag feiert, und das deswegen, weil er sich an den alten Spruch gehalten hat: Wer lange jazzt, wird alt." 8. März 2008
DIE AKUSTIK IM SAAL
"Wir kommen zur letzten Gruppe, und ich möchte nicht versäumen, mich vorher im Namen von unserem ganzen Team bei Ihnen, unserem Publikum zu bedanken. Die Akustik im Saal wäre lange nicht so gut, wenn Sie jetzt alle nicht da wären. Und natürlich machen wir auch das Festival für Sie." 29. März 1998
STÜNDE DIE HALLE 50 METER WEITER LINKS
"Wir wollen uns wieder bedanken vor allem bei der Stadt Burghausen für die Unterstützung und zum anderen bei der Firma Wacker, wir sind ja hier wieder fünf Tage zu Gast gewesen und haben schon manchmal das Gefühl, Wacker hat diese Halle extra für uns gebaut. Es ist ja auch sehr schön, dass die Firma die Halle gerade hierher gebaut hat und nicht fünfzig Meter weiter links, denn sonst säßen wir alle im Freien jetzt." 29. März 1998
Sendung: "RadioJazznacht" am 4. September 2022 ab 0:03 Uhr auf Bayern2
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