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Christa Ludwig zum 90. Geburtstag "Ich bin schon im Bauch mit Musik aufgewachsen"

Sie sang mit maximalem Ausdruck und größtmöglicher Natürlichkeit: Christa Ludwig feiert ihren 90. Geburtstag. Mit BR-KLASSIK-Redakteur Bernhard Neuhoff hat sie über ihre Anfänge und über Glück und Entbehrungen eines Künstlerlebens gesprochen.

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BR-KLASSIK: Man sagt, dass heute alles viel zu schnell geht bei Sängerkarrieren, dass die jungen Sängerinnen und Sänger zu schnell an die großen Häuser gehen, sich kaputt singen und dass es früher besser war. Ist das denn so? Hat nicht Ihre Mutter etwas ganz Ähnliches erlebt in den 30er-Jahren?

Christa Ludwig: Ich glaube, man sagt immer: "Früher war alles besser". Ich glaube das überhaupt nicht. Das Einzige, was die Sänger früher mehr hatten, war Charisma und Persönlichkeit auf der Bühne. Aber sonst glaube ich, dass es immer dasselbe ist. Man kann entweder nein sagen, wenn man eine Partie glaubt, nicht singen zu können, oder man macht das. Das liegt am Menschen. Und dass man schneller hin und her fliegen kann, das ist ganz klar. Caruso fuhr noch von Südamerika mit dem Schiff bis nach Italien, machte dann Station auf Gran Canaria, Las Palmas und hat dort noch in dem wunderschönen Opernhaus, das ja nur aus Holz besteht, gesungen, noch ein bisschen Geld dazu verdient und ist dann wieder weitergefahren. Und ich habe es auch noch so gemacht: Ich bin eine Tour geflogen und eine Tour mit dem Schiff gefahren.

BR-KLASSIK: Aber das würde heute viel zu lange dauern. Die Leute wollen was verdienen in der Zeit, die ihnen zur Verfügung steht.

Als Fidelio (Leonore), Salzburger Festspiele, 1968 | Bildquelle: © picture-alliance/dpa Christa Ludwig: Wenn sie nur Geld verdienen wollen, dann sollten sie das auch tun. Leider Gottes ist diese Sucht nach Geld immer größer geworden. Das ist schade, damit machen sich die jungen Sänger kaputt. Ich bekam als junges Mädel, ich so war 22 Jahre, ein Angebot nach Gelsenkirchen und nach Darmstadt. In Darmstadt hätte ich 800 Mark im Monat verdient und in Gelsenkirchen 1200 Mark. Aber ich hätte in Gelsenkirchen viel größere Partien singen müssen als in Darmstadt. Und meine Mutter sagte: "Schau nicht aufs Geld, schau auf deinen Regisseur und was du für Partien singst. Das Geld ist egal, das kriegst du später auch noch."

Emotionaler Ausdruck und Natürlichkeit

BR-KLASSIK: Sie hatten diesen wahnsinnig starken emotionalen Ausdruck auf der Bühne und blieben trotzdem immer natürlich. Wie schafft man das?

Christa Ludwig: Das kann ich Ihnen gar nicht sagen. Man ist wie man ist. Einmal hat mich Irmgard Seefried wahnsinnig geärgert. Ich kam gerade aus Hannover, also aus der deutschen Provinz, und war so gar nix. Wir hatten zusammen "Così fan tutte" zu singen. Vor dem Vorhang hat sie meine Hand nicht angefasst, um sich zu verbeugen. Ich war also wütend. Und dann hab ich mich gerächt: Während sie ihre erste große Arie zu singen hatte, habe ich mit meinem Bariton, das war der Hermann Prey oder der Kunz oder so, dermaßen Quatsch gemacht und geflirtet, dass das Publikum gelacht und immer nur die Augen auf uns gerichtet hat und nicht auf Irmgard Seefried (lacht).

Oper war für mich so selbstverständlich wie Kaffeetrinken oder Teetrinken.
Christa Ludwig

BR-KLASSIK: Wo ist auf der Bühne die Grenze zum Pathetischen? Haben Sie instinktiv gewusst: Das wäre jetzt zu viel?

Als Marshallin im "Rosenkavalier", Wiener Staatsoper, 1968 | Bildquelle: © picture-alliance/MAGNO Christa Ludwig: Dr. Günther Rennert hat einmal auf einer Probe zu mir gesagt: "Christa, nun lass doch endlich mal dein Talent weg." Ich machte immer zu viel. Und dann hat der Regisseur gesagt: "Das ist zu viel." Dann hab ich’s wieder gelassen. Meine Mutter hat die Carmen gesungen, als ich im Bauch war. Ich bin schon im Bauch aufgewachsen mit Musik. Mit drei oder vier Jahren war ich schon immer im Theater. Mein Vater hatte als Operndirektor in Aachen eine Loge. Und da konnte ich immer rein gehen. Und ich habe geweint, wenn es aus war. Es war für mich so selbstverständlich wie Kaffeetrinken oder Teetrinken.

Karajan und sein Parteiabzeichen

BR-KLASSIK: Zwei der Künstler, die an der Aufnahme des Rosenkavaliers im Jahr 1956 beteiligt waren, wurden auch immer wieder mit Vorwürfen konfrontiert wegen der Nazi-Zeit: Karajan und auch Elisabeth Schwarzkopf. Wie ist diese Generation mit diesen Belastungen umgegangen?

Christa Ludwig: Der Karajan war ja sogar zwei Mal in der Partei. Er hat ja das erste Mal anscheinend total vergessen. Mein Vater war ja damals Regisseur in Aachen, als Karajan dort Generalmusikdirektor war. Auf dem Schreibtisch lag neben dem Bleistiftspitzer und dem Radiergummi das Parteiabzeichen. Einmal hat ihn ein Reporter gefragt: "Warum sind Sie in die Partei eingestiegen?" Daraufhin hat Karajan gefragt: "Gehen Sie Skilaufen?" "Ja." "Fahren Sie mit dem Lift rauf oder gehen Sie zu Fuß?" "Nein", sagte der, "ich fahre mit dem Lift." "Warum?" "Na, damit ich schneller oben bin." Da sagte Karajan: "Na sehen Sie." Aber ich weiß, dass mein Vater einmal nach Hause kam und von einem beurlaubten Soldaten erfahren hatte, dass die Juden sich ein Grab schaufeln mussten und die Soldaten mussten sie von hinten erschießen. Mein Vater war dermaßen außer sich. Er hat gesagt: "Wie kann man so etwas erzählen? Das gibt es doch nicht. Das kann doch kein Mensch glauben so was." Das war die Zeit, in der man dachte: "Unsere deutschen Soldaten tun so etwas, das gibt es doch nicht." Das war 1943.

BR-KLASSIK: Hat es dann in ihm irgendwas verändert?

Christa Ludwig: Ich glaube bei meinem Vater nicht so sehr. Er hat es nicht geglaubt. Man könnte sagen, er war ein Nazi. Er hat sich um Politik überhaupt nicht gekümmert. Er hatte das Parteiabzeichen, sonst wäre er nie Intendant gewesen, das ist ganz klar. Er hat sich nur um Theater gekümmert.

Die reale Welt nur durchs Fernsehen

BR-KLASSIK: Würden Sie sagen, dass es dann doch eine Grenze gibt, an der man sagen muss: Für die Kunst tue ich alles, aber hier muss ich stopp sagen?

Christa Ludwig: Das wären Helden. Und ich weiß nicht, ob es beim Theater wirkliche Helden gibt. Die sind zu sehr befangen mit den Texten und der Musik von vor 100 Jahren. Wir leben in einer anderen Welt. Ich habe ja die reale Welt auch nie erlebt. Ich habe durchs Fenster oder durchs Fernsehen gesehen, was alles passiert auf der Straße. Aber ich habe mich ja nur mit Scheuklappen um den Text von früher und die Musik von früher gekümmert. Im Grunde genommen ist es falsch, aber auch wunderbar, dass man am realen Leben vorbei geht. Und ich denke manchmal, ich habe dadurch etwas versäumt.

BR-KLASSIK: In Summe haben Sie großartige Momente erleben dürfen. Trotzdem ist da dieses Gefühl, am richtigen Leben vorbei gelebt zu haben. Aber wenn man jetzt so eine Art Plus-Minus-Rechnung aufmacht, haben Sie doch ein wahnsinnig schönes Leben gehabt?

Im Grunde genommen ist es falsch, aber auch wunderbar, dass man am realen Leben vorbei geht.
Christa Ludwig

Christa Ludwig: Ja, trotz meiner Nervosität und trotz dem fehlenden menschlichen Kontakt. Zum Beispiel habe ich keine Freunde. Ich habe eine Schulfreundin von 1940. Aber das ist meine einzige Schulfreundin. Kollegen sind keine Freunde. Das sind Kollegen. Liebe Kollegen, sehr nette Kollegen, aber eben keine Freunde. Dadurch, dass man immer wieder in einem anderen Land ist – ein halbes Jahr hier, ein Vierteljahr da, zwei Monate da – kann man ja gar keine Freundschaft pflegen. Außerdem dürfen wir als Sänger ja nicht so viel reden. Wir dürfen nicht rauchen, keinen Alkohol trinken und eben nicht viel reden. Da hört die ganze Kommunikation mit Menschen auf. Und das vermisse ich auch. Ich habe zwar meine Kinder. Aber meinen Sohn habe ich ja kaum erlebt. Den erlebe ich jetzt, weil wir seit zehn Jahren nah zusammen wohnen. Jetzt sehe ich ihn jede Woche.

Mama und Papa auf dem Foto

BR-KLASSIK: Und als er klein war?

Mit Ehemann Walter Berry in Wozzeck, Wiener Staatsoper, 1963 | Bildquelle: picture-alliance/dpa Christa Ludwig: Da war ich ja nie da. Und der Walter Berry als Vater war auch nie da. Das Schlimmste, was uns passiert ist: Da konnte er gerade im Bettchen stehen, er muss so anderthalb Jahre gewesen sein. Und wir kommen zurück von irgendwo her, von Buenos Aires oder so. Und wir gehen an das Bettchen ran, und sagen: Der Papa ist da und die Mama ist da. Und er dreht sich rum zur Wand, da hing ein Foto von uns beiden. Und er sagt: Das ist Papa und das ist Mama. Und er hat uns nicht erkannt. Das ist furchtbar. Aber das ist auch der Beruf.




BR-KLASSIK: Sie haben jedenfalls viele Menschen sehr, sehr glücklich gemacht. Und Ihre Aufnahmen tun das heute immer noch, Frau Ludwig.

Christa Ludwig: Das freut mich. Weil der Ton, den wir gesungen haben, der ist ja sofort wieder weg. Also wir haben ja gar keine Ahnung, wie das geklungen hat. Ich bekam gestern einen wunderschönen Telefonanruf, das hat mich sehr gefreut. Da will man hier im ORF zu meinem Geburtstag im Fernsehen den "Fidelio" bringen. Der wurde 1963 oder so in Berlin gemacht. Das ist noch schwarz-weiß und das ist mit zwei oder drei Kameras, mit ganz wenigen Möglichkeiten. Und da hat mich die Dame, die das organisiert, gestern angerufen und gesagt: "Wir sitzen hier noch mit meinem Mann. Uns wissen Sie: Sie singen Ihre Arie und wir haben Tränen in den Augen und weinen." So gut hat‘s ihnen gefallen. Ich kann es Ihnen gar nicht sagen, wie mich das gefreut hat. Ich hab mir das Band einmal angeschaut und dann nicht mehr. Und ich muss sagen, wenn das so übrig bleibt, dann ist das schön. Dafür hab ich gerne Nerven gehabt und gezittert.