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Saisonauftakt der Münchner Philharmoniker unter Valery Gergiev Mit E-Gitarre gegen neobarockes Gezirpe

Ein Saisonbeginn, der es in sich hat: drei Programme mit drei Bruckner-Symphonien an drei Tagen hintereinander – darunter macht es Chefdirigent Valery Gergiev bei den Münchner Philharmonikern nicht. Zum Auftakt am 18. September hat der Marathon-Mann Gergiev Bruckners Sechste, seine "keckste", mit einem symphonischen Monster von Alfred Schnittke zusammengespannt – selbst für den russischen Workaholic kein Spaziergang.

Valery Gergiev | Bildquelle: Alexander Shapunov

Bildquelle: Alexander Shapunov

Die leere Bühne der Münchner Philharmonie, darauf unzählige Stühle und Pulte, links vorne Celesta, Cembalo und Flügel. Ein einsamer Schlagzeuger läutet das Spektakel im Saal mit Röhrenglocken ein. Ein Trompeter tritt auf und improvisiert wild vor sich hin. Weitere Kolleginnen und Kollegen der Münchner Philharmoniker folgen lautstark aus allen Richtungen – bis die Bühne rappelvoll besetzt ist und die Hundertschaft eine ohrenbetäubende Kakophonie entfesselt. Da endlich tritt der Dirigent mit der meterhohen Partitur auf und versucht, sich im Tumult Gehör zu verschaffen, seinen Einsatz zu geben – was ihm erst im zweiten Anlauf gelingt.

Jazz-Einlagen und Cembalo

Komponist Alfred Schnittke | Bildquelle: imago/ITAR-TASS Alfred Schnittke | Bildquelle: imago/ITAR-TASS In seiner monumentalen Ersten Symphonie, einem Schlüsselwerk des russischen Komponisten Alfred Schnittke, hat der Wolgadeutsche auch Performance-Elemente eingebaut. Im zweiten Satz gehen die Holzbläser von der Bühne ab, um erst zum Finale wieder aufzukreuzen. Einzelne Soli werden von den Kolleginnen und Kollegen ostentativ beklatscht. Das gilt auch für die Jazz-Einlagen, für die die Münchner Philharmoniker Szene-Größen wie den Pianisten Christian Elsässer, den Saxophonisten Norbert Nagel oder den Bassisten Henning Sieverts eingekauft haben. Eine E-Gitarre kommt auch zum Einsatz und kontrastiert mit dem neobarocken Gezirpe des Cembalos.

Raffinierter Stil-Mix

Nachdem Schnittke mit seriellen Experimenten in eine Sackgasse geraten war, fand er zu seinem polystilistischen Ansatz – die Erste Symphonie ist das Paradebeispiel für seinen raffinierten Stil-Mix, der Zitate aus der Musikgeschichte von Bach über Beethoven und Haydn bis zu den Beatles munter mit Parodien und stilistischen Fakes mischt. Eine populäre Chopin-Melodie zum Beispiel wird durch andere Klangschichten überlagert, bis die Konturen verwischen. Eine Montage-Technik, die auch Trivialmusik einbezieht – und damit nicht von ungefähr an Gustav Mahler erinnert, dessen Marschtritte auch durch Schnittkes Panoptikum geistern. 

Sichtlicher Spaß an der Sache

Münchner Philharmoniker | Bildquelle: © Andrea Huber Die Münchner Philharmoniker | Bildquelle: © Andrea Huber Schnittkes meisterhafte Dekonstruktion von scheinbar Bekanntem ist auch eine Studie über Masse, Macht und Individuum. Die Uraufführung 1974 im damaligen Gorki durch den tapferen Gennadi Roschdestwenski geriet denn auch zum Skandal. 45 Jahre später war das Münchner Publikum begeistert von diesem einstündigen Monster, das die Münchner Philharmoniker mit größtem Engagement spielten, hochkonzentriert, aber auch mit sichtlichem Spaß an der Sache. Auch im heftigsten Getümmel behält Gergiev den Überblick. Es ehrt ihn, dass er seine nun auch schon fünfte Münchner Saison mit einer derart sperrigen, gleichwohl überwältigenden Rarität aus seiner Heimat eröffnet.

Eigenartig hüpfende Rhythmen

Dagegen nahm sich die Sechste Symphonie von Anton Bruckner nach der Pause fast harmlos aus. Dabei hat Bruckner sie selbst nicht umsonst – und nicht nur wegen des koketten Reims – seine "keckste" genannt, also seine kühnste, fortschrittlichste. Mit ihrer disparaten, zerklüfteten Form und ihren wildgezackten, eigenartig hüpfenden Rhythmen passt sie überraschend gut zu Schnittkes Schnitttechnik. Allein das leicht verrückte, bizarre Scherzo dürfte für damalige Ohren befremdlich geklungen haben. Und die fast trivial dröhnende Melodie im Finale hätte auch in Schnittkes Klangkosmos auftauchen können.

Große Spannungsbögen und weich abgefederte Höhepunkte

Anton Bruckner an der Orgel, Zeichnung in Scherenschnittmanier von Otto Böhler | Bildquelle: picture alliance / akg Anton Bruckner an der Orgel, Zeichnung in Scherenschnittmanier von Otto Böhler | Bildquelle: picture alliance / akg Man kann die Ecken und Kanten dieser Symphonie schärfer zuspitzen, ihr Zukunftspotenzial markanter herausarbeiten – Gergiev setzt auf Wohlklang. Mit bloßen Händen, ohne Stab formt er den gerühmten Bruckner-Klang der Münchner Philharmoniker organisch zu großen Spannungsbögen und weich abgefederten Höhepunkten. Im zentralen Adagio blüht der warme, runde Streicherklang zu reinstem Gesang auf. Und das Blech überzeugt einmal mehr durch Perfektion und Strahlkraft. Keine Frage, die Münchner Philharmoniker präsentieren sich zum Saisonstart in Bestform.

Es fehlte die letzte Prägnanz

Auch wenn die punktierten Rhythmen im Scherzo und manche Details im Finale prägnanter hätten ausfallen können – aber letzte Präzision ist Gergievs Sache eher nicht, seine Einsätze sind bekanntlich nicht immer ganz leicht zu entschlüsseln. Nach den drei Münchner Konzerten mit der Fünften, Sechsten und Siebten Symphonie pilgern Gergiev und die Münchner Philharmoniker dann wieder nach Sankt Florian bei Linz, um in der barocken Stiftsbasilika mit diesen drei Symphonien ihren Bruckner-Zyklus zu vollenden und auf CD zu verewigen – da kommen dann noch sechs Sekunden Nachhall dazu.

Sendung: "Leporello" am 19. September 2019 ab 16.05 Uhr auf BR-KLASSIK

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