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Interview - Charlotte Seither "Frauen können ein pures Kraftwerk für unsere Gesellschaft sein"

Was das Komponieren angeht, sind die Männer in der Klassik eindeutig in der Überzahl. Wie ist es heute? Charlotte Seither, zeitgenössische Komponistin und GEMA-Aufsichtsrätin, gibt Antworten im BR-KLASSIK-Interview.

Charlotte Seither | Bildquelle: © Marko Bussmann

Bildquelle: © Marko Bussmann

BR-KLASSIK: Inwiefern spiegeln sich die heutigen Rollenbilder wider, wenn man die Neue Musik betrachtet?

Charlotte Seither: Schaut man auf die Generation der heute 30- bis 40-jährigen Frauen in der Komposition, dann macht das zunächst einmal Mut: Die inhaltlich starken Positionen werden in dieser Generation nicht selten von Frauen vertreten, die zunehmend sichtbar werden auf den Podien der Neuen Musik. Gleichwohl darf dies jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass wir auch heute noch weit entfernt sind von dem, was Chancengleichheit eigentlich meint: Dass Teilhabe und die Möglichkeit, Einfluss zu nehmen an den wichtigen Stellen in der Gesellschaft, dass Entscheidungsmacht, Repräsentanz und nicht zuletzt auch finanzielle Wertschätzung für beide Geschlechter in gleicher Weise in ihrem Karriereverlauf erwerbbar sind. Wenn wichtige Funktionen in unserem Kulturleben nicht mehr automatisch männlich gedacht werden, wenn Komponieren, Dirigieren oder das Leiten eines Opernhauses Handlungsfelder sind, die auch ein anderes Geschlecht haben können und damit keine Ausnahme mehr sind, dann ist dies ein Schritt in die richtige Richtung. Der Weg zu diesem Ziel ist freilich noch weit. Von 28 Staaten in der EU steht Deutschland in Sachen Gendergerechtigkeit auf Platz 26. Die Frage also lautet: In was für einer Gesellschaft will ich eigentlich leben? Ich bin der festen Überzeugung, dass eine Gesellschaft, die partizipativ denkt und handelt, und die sich verändern kann und will, die lebenswertere ist. Dies aktiv mit zu gestalten, dafür engagiere ich mich sehr gerne.

BR-KLASSIK: Wie stellt sich das Frau-Mann-Verhältnis momentan im Bereich Komponieren genau dar? Können Sie da als GEMA-Aufsichtsrätin Zahlen nennen?

Charlotte Seither: In der GEMA liegt der Frauenanteil bei derzeit 13,5 Prozent. Die Zahl ergibt sich aus der Summe aller drei Sparten - Komposition, Textdichtung und Verlegertätigkeit. Betrachtet man die Komposition für sich, so zeichnet sich ein noch ernüchternderes Bild: Im Deutschen Komponistenverband liegt der Frauenanteil bei derzeit sieben Prozent. 93 Prozent der Mitglieder, die im Berufsverband organisiert sind, sind also männlich. Dass wir über solche Zahlen nicht nur nachdenken müssen, sondern dass sie uns auch dringlich zum Handeln auffordern, scheint mehr als geboten.

Stärkere Hebel für Veränderung

BR-KLASSIK: Wie sieht es im Bereich "Musikerinnen" und "Dirigentinnen" aus?

Charlotte Seither: Auch zu diesem Themenfeld hat Monika Grütters in der Studie "Frauen in Kultur und Medien" eine eindrucksvolle Dokumentation durch den Deutschen Kulturrat erstellen lassen. Darin zeigt sich, dass Frauen heute sehr gut ausgebildet sind. Sie stellen an den meisten Universitäten bereits die Mehrheit der Studierenden und legen im Schnitt auch die besseren Examina ab. 51,5 Prozent der Absolventen im Fach Orchestermusik sind heute Frauen. Und doch sind 73 Prozent der Stellen in den staatlichen Orchestern mit Männern besetzt. Eindringlich ist diese Tendenz insbesondere beim gender pay gap zu verfolgen. Im Dirigierberuf verdienen Frauen im Schnitt 44 Prozent weniger als ihre männlichen Kollegen. Komponistinnen müssen mit durchschnittlich 35 Prozent weniger Gehalt auskommen. Fazit: Männer teilen soziales Prestige, Einkommen wie auch Gestaltungsmacht nach wie vor weitgehend unter sich auf. Wo immer ein hohes Einkommen, hohe Verantwortungsmacht und ein hoher sozialer Status anzutreffen sind, dort finden sich - der hohen Qualifikation von Frauen zum Trotz - noch immer erheblich mehr Männer als Frauen. Niedrige Einkommen, wenig Gestaltungsmacht und ein geringer sozialer Status sind hingegen mit einem hohen Frauenanteil verbunden. Die Maßnahmen, die die Politik hier eingeleitet hat, um korrigierend zu Gunsten der Frauen einzugreifen, genügen also bei weitem (noch) nicht. Wenn wir wirklich etwas verändern wollen, dann brauchen wir stärkere Hebel.

BR-KLASSIK: Wie ist Ihre Einschätzung, gibt es eine Diskrepanz zwischen dem Anteil an weiblichen Studierenden an den Unis und dem Anteil an professionellen Komponistinnen?

Charlotte Seither: Ich beobachte diese Diskrepanz in meinem Umfeld seit langem. Insbesondere in der ersten Phase nach dem Studienabschluss, nach vier oder fünf Jahren, sind viele junge Frauen, die hoffnungsvolle Karrieren gestartet haben, oftmals nicht mehr am Ball. Der Schritt vom geschützten Raum der Musikhochschule in den realen Arbeitsmarkt gestaltet sich hier gerade für Frauen oftmals schwierig. Wir haben im Laufe der Zeit viele kostbare Stimmen unter den jungen Komponistinnen verloren, aber auch unter begabten jungen Männern. Jede gelungene Karriere ist letztlich ein sozialer Glücksfall, bei dem viele Faktoren zusammen spielen. Wir müssen umgekehrt aber auch - und darum geht es - dafür sorgen, dass Karrieren gelingen können.

Die Gesellschaft, in der wir leben, muss sich verändern.
Charlotte Seither

BR-KLASSIK: Braucht es eine Art "Frauenquote", um den Anteil an weiblichen Kompositionen zu erhöhen? Oder sind vielleicht ganz andere Dinge nötig, wie etwa Mentorinnen, Preise oder ähnliches?

Charlotte Seither: Ich persönlich halte es für unabdingbar, dass Juries und Gremien weitgehend paritätisch besetzt sind. Gerade auch von staatlichen Institutionen, die Stipendien und andere Fördermittel vergeben, muss hier ein klares Signal ausgehen. Hinzu kommt aber noch eines: Die Rollenbilder, die wir verinnerlicht haben, beruhen ja stets auf dem, was uns die Umwelt von klein auf als role model vorgespiegelt hat. Eine zentrale Bedeutung kommt hier besonders auch den Medien zu, die ja ständig auswählen, was sie uns auf welche Weise vor Augen stellen. Wir müssen hier, insbesondere auch im öffentlich-rechtlichen Rundfunk, sehr genau darauf achten, dass Programme ausgeglichen gestaltet werden, und dass diese auch inhaltlich dem Anspruch einer ausgewogenen, stereotypenfreien Darstellung entsprechen. Wenn Frauen ganz selbstverständlich auch in Schulbüchern, Rundfunkprogrammen, Lexika, Ahnenreihen wie auch als Schul- oder Straßennamensgeberinnen vertreten sind, dann wird dies auch Folgen haben für unsere Gesellschaft. Das muss letztlich ja auch das Ziel sein: Dass sich die Gesellschaft verändert, in der wir leben.

Bilder von Frauen zu sehen, die etwas Besonderes leisten, prägt ebenso im Positiven, wie uns Klischee-Bilder von lang her im Negativen geprägt haben.
Charlotte Seither

BR-KLASSIK: Was können Sie tun oder was planen Sie ganz konkret als Mitglied im Aufsichtsrat der GEMA zu tun, um etwas zu verändern?

Charlotte Seither: Neu ist, dass die GEMA das Ziel, Frauen zu fördern, in ihr Statut aufgenommen hat. Dass dieser Schritt dringend geboten war, dies hat die Diskussion zu diesem Thema deutlich gezeigt. Im zweiten Schritt geht es mir darum, den Frauenanteil in den Arbeitsgremien der GEMA, aber auch in der Jury zum Deutschen Musikautorenpreis zu erhöhen. Auch hier können wir in diesem Jahr auf gewisse Erfolge verweisen. Darüber hinaus ist es mir ein besonderes Anliegen, die mediale Darstellung von Kultur schaffenden Frauen ganz allgemein zu erhöhen. Wenn Fotos zu sehen sind vom Mitgliederfest der GEMA, von Preisverleihungen oder Statements zu politischen Themen, dann müssen hier auch die erfolgreichen Pop-Sängerinnen, Singer-Song Writerinnen oder Textdichterinnen zu Wort kommen. Immer wieder Bilder von Frauen zu sehen, die etwas Besonderes leisten, prägt ebenso im Positiven, wie uns Klischee-Bilder von lang her im Negativen geprägt haben. Frauen können mit ihrer Kompetenz ein pures Kraftwerk für unsere Gesellschaft sein. Wir müssen nur hinschauen und dies auch nutzbar machen.

BR-KLASSIK: Was ist Ihr persönlicher Rat an Frauen, die Musik als Beruf wählen möchten? Was war Ihr "Erfolgsrezept"?

Charlotte Seither: Kunst zeigt meiner Meinung nach nicht, wie die Welt ist, sondern wie jeder einzelne Künstler sie auf seine besondere Art sieht. Wir dürfen also nicht darauf warten, dass andere die Strukturen schaffen, in denen die eigene Kunst gelingen kann, wir müssen selbst an jeder Stelle mit dazu beitragen, dass sich auch die Systeme selbst verändern können, in denen die eigene Kunst stattfindet. Veränderung kommt stets von innen. Ich und du und jeder kann das seinige Steinchen hierfür setzen - im Hier und Jetzt.

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