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Franz Schubert "Winterreise"

Wenn die Tage kürzer werden, die Bäume kaum noch Blätter tragen und es draußen trüb und kalt wird, versinkt man leicht in schwere, melancholische Gedanken. Auch in Franz Schuberts Liedzyklus "Winterreise" trifft beides aufeinander: die winterliche Natur und die innere Niedergeschlagenheit des Wanderers. Ein Jahr vor seinem Tod, im Herbst 1827, vollendete Schubert diesen Liederzyklus nach Texten von Wilhelm Müller. Susanna Felix hat mit dem Bariton Christian Gerhaher gesprochen und stellt das Starke Stück vor.

Christian Gerhaher | Bildquelle: © Thomas Egli

Bildquelle: © Thomas Egli

Die Sendung zum Anhören

Es ist Nacht, es ist Winter – zumindest im Herzen des Wanderers. Nachdem ihn seine Geliebte verlassen hat, gibt es nichts, was ihn noch zurückhält. Nachts bricht er auf, eilt aus der Stadt, will alles hinter sich lassen. Doch es fällt ihm nicht leicht: Immer wieder blickt er zurück und schwelgt in süßer Erinnerung an glücklichere Tage. Hin und her gerissen zwischen Verbitterung, Hoffnung und Todessehnsucht schwankt er von einem Gefühlsextrem ins andere. In der winterlichen Landschaft sieht er Abbilder seiner eigenen, inneren Erstarrtheit. Als Wilhelm Müller diese Zeilen dichtete, verarbeitete er darin wohl auch eigene Erinnerungen an eine Liebesbeziehung, die er als Soldat während der Befreiungskriege hatte. Weil seine Angebetete zum politisch feindlichen Lager gehörte, wurde Müller unehrenhaft aus seinem Dienst entlassen.

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Die Winterreise "politisch verstanden"

Porträt Franz Schubert | Bildquelle: picture-alliance/dpa Franz Schubert | Bildquelle: picture-alliance/dpa Es war Winter, als er in seine Heimat zurückkehrte. Vor diesem Hintergrund kann die "Winterreise" freilich politisch verstanden werden. Auch für den Bariton Christian Gerhaher ist die Figur des Wanderers eher ein Charakter, der die Politik Metternichs kritisch betrachtet, "nämlich einer, der am Anfang 'Gute Nacht' sagt zu den restaurierten Schlafmützen oder zu den Leuten, die ihn auch rausgeworfen haben", erläutert Gerhaher. "Ich persönlich hadere etwas mit der langläufigen Identifikation aus einer Reminiszenz der eigenen Jugend, indem man sich dann noch mal hineinbegeben kann mit all ihren existenzialistisch aufbegehrenden und sonstigen Attributen. Das ist ein Zugang zu diesem Werk, der mir persönlich nicht liegt. Lieber ist mir eine distanzierte Haltung, die sich mit gedanklichen Zugängen, intellektuellen Zugängen wie des Politischen und des Autobiografischen als Halt beschäftigt."

Wir waren über die düstere Stimmung dieser Lieder ganz verblüfft.
Schuberts Freund Joseph von Spaun über die 'Winterreise'

Ein Zyklus "schauerlicher Lieder"

Wenige Jahre nach der Veröffentlichung von Wilhelm Müllers Gedichten fielen diese 1827 Franz Schubert in die Hände, der zu diesem Zeitpunkt bereits unheilbar an Syphilis erkrankt war. In diesem Zustand machte Schubert sich sogleich an die Vertonung der finsteren Gedichte. Sein Freund, Joseph von Spaun, erinnert sich: "Schubert wurde durch einige Zeit düster gestimmt und schien angegriffen. Auf meine Frage, was in ihm vorgehe, sagte er nur: 'Nun, ihr werdet es bald hören und begreifen.' Eines Tages sagte er zu mir: 'Komme heute zu Schober. Ich werde euch einen Zyklus schauerlicher Lieder vorsingen. Ich bin begierig zu sehen, was Ihr dazu sagt. Sie haben mich mehr angegriffen, als dieses je bei anderen Liedern der Fall war.' Er sang uns nun mit bewegter Stimme die ganze 'Winterreise' durch. Wir waren über die düstere Stimmung dieser Lieder ganz verblüfft, und Schober sagte, es habe ihm nur ein Lied, der 'Lindenbaum', gefallen."

Sprechende Klänge

So wie Schubert hier das Rauschen der Zweige in der Klavierbegleitung hörbar macht, ist auch der gesamte Zyklus voll von solchen musikalischen Abbildungen: "Die sehr starken poetischen Bilder Müllers umzusetzen in sprechende Klänge ist wahrscheinlich das Hauptbestreben Schuberts gewesen", glaubt Christian Gerhaher. "Zum Beispiel gleich in Nummer zwei, der 'Wetterfahne', wo ein Ausgestoßener vor einem Haus steht, das ihn abweist und mit einer Wetterfahne auch noch feindlich gegen ihn wirkt: Oder auch ganz stark 'Im Dorfe', wenn er an diesem Dorf wieder auftaucht und Hunde bellen, und dann die schlafenden Menschen in diesem choralartigen kollagierten Einschub beschrieben werden – ich finde, das hat eine starke Bildkraft."

Das hat eine starke Bildkraft.
Christian Gerhaher

Traum, Erinnerung und Realität

Der Dichter Wilhelm Müller, Stich von Johann Friedrich Schröter | Bildquelle: Wikimedia Commons Der Dichter Wilhelm Müller | Bildquelle: Wikimedia Commons Im Gegensatz zu Schuberts erstem Liedzyklus, der "Schönen Müllerin", ist die Handlung in der "Winterreise" nur vage angedeutet. Sie besteht mehr aus aneinander gereihten Bildern und Assoziationen, die dem Winterreisenden auf seiner Wanderung begegnen. Traum, Erinnerung und Realität sind dicht miteinander verwoben, die Grenzen fließend. Zwischendurch findet der Wanderer Unterschlupf in der Hütte eines Köhlers. Am nächsten Morgen zieht er weiter. Im letzten Lied trifft der Wanderer auf einen Leiermann, der genauso einsam und verlassen zu sein scheint wie er selbst. Die Frage, ob der Alte mit ihm gehen und zu seinen Liedern die Leier drehen will, bleibt im Raum stehen. Ein offener Schluss? "Ich glaube, die 'Winterreise' ist gerade ein Abbild eines sich im diesem Moment nicht wirklich entwickelnden Menschen", sagt Christian Gerhaher dazu. "Diese stark, im Grunde muss man sagen, pubertäre Gestalt des Winterreisenden ist meiner Ansicht nach nicht unbedingt der große Sympathieträger wie der Müller aus der 'Schönen Müllerin'."

Man könnte sagen, die 'Winterreise' ist die Fortführung der 'Schönen Müllerin' – aber ohne Hoffnung.
Bariton Christian Gerhaher

Der romantische Wanderer

Auch der Müllerbursche in Schuberts erstem Liedzyklus befindet sich auf der Wanderschaft – ein Thema, das überhaupt die gesamte Romantik durchzieht. Der Charakter des Wanderns in der "Winterreise" ist jedoch ein grundlegend anderer, findet Christian Gerhaher: "Das Wandern des Müllers ist ein frisches, ein enthusiastisches, ein mit Hoffnungen überzogenes – das ist es in der 'Winterreise' nicht mehr. Man könnte sagen, die 'Winterreise' ist die Fortführung der 'Schönen Müllerin', aber ohne Hoffnung. Ich möchte nur das Lied 'Letzte Hoffnung' nennen, wo beschrieben wird, dass ein Blatt an einem Baum Sinnbild der eigenen Hoffnung, der eigenen Möglichkeit noch ist. Sobald dieses Blatt herunterfällt, werden auch die eigenen Hoffnungen und das eigene Leben begraben."

Musik-Info

Franz Schubert: Winterreise op. 89, D 911

Christian Gerhaher (Bariton)
Gerold Huber (Klavier)

Label: Arte Nova Voices

Sendung: "Das starke Stück" am 13. Dezember 2022, 19.05 Uhr auf BR-KLASSIK

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