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Kritik - Reimanns "Lear" bei den Salzburger Festspielen Wie ein Film von David Lynch

Es war die letzte Opernpremiere der diesjährigen Salzburger Festspiele: Die Neuinszenierung von Aribert Reimanns "Lear" ging am 20. August 2017 erstmals über die Bühne. Eine echte Starbesetzung wagte sich an diese ebenso packende wie düstere Shakespeare-Oper: mit Anna Prohaska und Gerald Finley in den Titelrollen und Franz Welser-Möst am Pult der Wiener Philharmoniker. Regie führte der Australier Simon Stone, der sich bisher als unkonventioneller Schauspielregisseur einen Namen gemacht hat. Und seine surreale Inszenierung zwischen Realität und Albtraum geht wirklich unter die Haut.

Bildquelle: © Salzburger Festspiele / Thomas Aurin

Die berühmte Sturmszene. Das Herzstück der Oper. König Lear auf dem Weg in den Wahnsinn. Weil er sich getäuscht hat in seinen Töchtern. Die einzige, die ihn aufrichtig liebt, hat er im Zorn verstoßen. Die beiden anderen, die nur sein Erbe wollten, haben ihm erst Honig um den Bart geschmiert und ihn dann hinausgeworfen auf die Heide. Jetzt legt er sich mit den Naturgewalten an, mit dem Schicksal. In Salzburg steht der Bariton Gerald Finley in Unterwäsche in einer zertrampelten Blumenwiese. Dazu ein paar armselige Lichtblitze aus den Scheinwerfern und Wasser, das man aus der Sprinkleranlage herabplätschern sieht. Ein bisschen albern wirkt dieser Sturm. Und während Finley um sein Leben singt, während das Schlagzeug vom Seitenbalkon dröhnt, als gäbe es kein Morgen, während die Blechbläser der Wiener Philharmoniker im Graben alles geben, vergeigt die Regie die Szene. Oder etwa doch nicht?

Starke Bilder brennen sich ein

Brüche gehören dazu für Regisseur Simon Stone. Eine kohärente Geschichte sollte man vom Salzburger "Lear" nicht erwarten; überraschende Wendungen, faszinierende Assoziationen, starke Bilder, die sich einbrennen, dagegen schon. Es spritzt viel Theaterblut in dieser Inszenierung. Wenn dem Herzog von Cornwall die Kehle durchgeschnitten wird, zeigt Stone das in schonungsloser Drastik. Dann aber spielt er wieder mit der Bühnenillusion: Er lässt die Sänger an die Rampe herantreten und eine Mordszene konzertant singen. Oder er lässt einen Teil des Publikums von Beginn an auf der Bühne Platz nehmen - bis sich mitten im Stück herausstellt, dass es sich gar nicht um Festspielbesucher, sondern um Statisten handelt, die dann von Security-Leuten mit Blut besudelt werden.

Die Inszenierung in Bildern

Das Feld wird zum Irrenhaus

"Lear" in Salzburg: Gerald Finley (König Lear), Kai Wessel (Edgar) | Bildquelle: © Salzburger Festspiele / Thomas Aurin Je mehr Lear in den Wahnsinn gleitet, desto stärker geraten auch Zeit, Raum und Logik aus den Fugen. Wie in einem Film von David Lynch verschwimmen die Grenzen zwischen Realität und Albtraum. So geistert der Graf von Gloster, packend dargestellt von Lauri Vasar, schon mit blutigen Augenhöhlen über die Bühne, lange bevor ihm im Stück tatsächlich die Augen ausgedrückt werden. Wenige Requisiten deuten fluktuierende assoziative Räume an: Das Feld wird zum Irrenhaus, das Irrenhaus zum Krankenzimmer. Auch Tragik und Komik liegen nah beisammen: Eine Micky-Maus-Figur tanzt mit Luftballons herein, entpuppt sich dann aber als der tieftraurige Grafensohn Edgar, dem Kai Wessel auf dem Drahtseil zwischen Tenor und Countertenor existentielle Dringlichkeit verleiht.

Gänsehautszene zum Schluss

Das surreale Panoptikum, das Simon Stone entwirft, ist archaisch, düster, geht unter die Haut. Wie die in sich kreisenden Cluster, die schneidenden Klänge von Aribert Reimann, die unter dem souveränen Dirigat von Franz Welser-Möst doch nie die Sänger zudecken. Man hört einfach alles in der Felsenreitschule, auch die zarten Moll-Akkorde in den tiefen Streichern, die sich irgendwann in die zwölftönige Partitur hineinschleichen. Fantastisch die Sängerbesetzung, allen voran natürlich Gerald Finley, dessen Lear zwischen furiosem Wüten und Verlöschen zu sich selbst findet. Seine Gegenspielerinnen Evelyn Herlitzius und Gun-Brit Barkmin spiegeln in gezackten, aber hochvirtuosen Melodielinien die Zerrissenheit ihrer Charaktere. Am Ende erscheint Lears geliebte, aber verstoßene Tochter Cordelia, von Anna Prohaska mit Wärme und Mitgefühl gesungen, am Totenbett des Königs, ganz in weiß, wie ein Todesengel, und nimmt den gebeutelten Alten zärtlich mit in ein anderes Reich. Eine Gänsehautszene zum Schluss einer merkwürdigen, aber denkwürdigen Inszenierung, die man in ihrer Rätselhaftigkeit am liebsten gleich noch einmal ansehen würde.

Reimanns "Lear" in Salzburg

Aribert Reimann:
"Lear"

Oper in zwei Teilen
Libretto von Claus H. Henneberg nach William Shakespeares Tragödie "King Lear"
Salzburg, Felsenreitschule
Regie: Simon Stone
Wiener Philharmoniker
Dirigent: Franz Welser-Möst

Weitere Vorstellungen:
23. August, 19.30 Uhr
26. August, 19.00 Uhr
29. August, 19.00 Uhr

Informationen auf der Homepage des Festivals

Sendung: "Leporello" am 21. August 2017, 16.05 Uhr auf BR-KLASSIK