SWEET SPOT.
Neugierig auf Musik
Bildquelle: colourbox.com
Ich mag Weihnachten nicht besonders. Dieses kitschige Geglitzere und der alljährliche Besinnlichkeitszwang – nee nee, vielen Dank, ohne mich. Das Weihnachtsoratorium von Bach liebe ich allerdings sehr. Doch das scheint an Weihnachten zu kleben wie die Schnecke an ihrem Schneckenhaus.
Etwas zwiegespalten nehme ich Platz in der Münchener Philharmonie am vierten Advent. Ungeduldig rutsche ich hin und her. Dann kommen die Musiker auf die Bühne. Das Kleid von der Sopranistin Simone Kermes irritiert mich: eine Mischung aus Bauchtanzkostüm und dem Gewand einer der Heiligen Drei Könige. Nun ja. Es geht los. "Jauchzet" - dum dudi dum dum dum di dum – "froh-lo-cket".
Sofort schießen Bilder in meinen Kopf. Damals mit dem Schulchor haben wir jedes Jahr das Weihnachtsoratorium aufgeführt. "Jauchzet". Matze aus der Neunten haut beherzt auf die Pauke ein. "Froh-lo-cket". Wie ein Haufen quietschender Welpen. Spätestens beim zweigestrichenen g ist klar: Es ist zu hoch. Für alle. Mir wird warm ums Herz (wegen Welpen vielleicht?).
Der Münchener Bach-Chor meistert das zweigestrichene g mühelos. Inzwischen sind wir bei der ersten Solisten-Arie angekommen: "Bereite dich Zion". Die Altistin Anne-Carolyn Schlüter klingt schlicht und gleichzeitig samtig, pudrig. Dann der Choral "Wie soll ich dich empfangen". Ich singe und schunkle innerlich mit. Mir wird, ich weiß nicht, irgendwie… weihnachtlich?
Irgendwann kommt der erste Sopraneinsatz. Ich werde unsanft aus der muckeligen Stimmung herausgerissen. Simone Kermes singt wie ihr Kleid aussieht: schrill, übertrieben. Die Stimme klingt für mich unangenehm blechern, die Artikulation unnatürlich.
Ich schweife gedanklich wieder ab. Welcher der Heiligen Drei Könige könnte Kermes' Kleid gut tragen? Und wie sieht eigentlich Myrrhe aus? Ich hab Zeit: Immerhin werden hier alle sechs Teile des Weihnachtsoratoriums aufgeführt. Überhaupt, denke ich, eine Kirche mit ihrer Erhabenheit und schwimmenden, tragenden Akustik würde der ganzen Veranstaltung viel besser stehen als die in jeder Hinsicht trockene Philharmonie. Meine Weihnachtlichkeit ist wieder am Nullpunkt, mein innerer Grinch lacht sich ins giftgrüne Fäustchen.
Doch dann, nach der Pause irgendwann, packt es mich wieder. Hansjörg Albrecht tänzelt ansteckend durch das Oratorium vom Cembalo aus. Das Zusammenspiel der Musiker ist auf den Punkt, die männlichen Solisten überzeugen. Immer wenn der Chor mit Bläsern einsetzt, hüpfen meine Finger unbemerkt im Takt auf der Sitzlehne. Weihnachten hält mich fest in seinen tannengrünen Griffeln.
Nach ca. drei Stunden torkele ich weihnachtstrunken aus der Philharmonie. Morgen muss ich unbedingt in die Stadt: die restlichen Geschenke besorgen. So eine Weihnachtsoratorium-CD würde sich sicher gut unter dem herrlich kitschig glitzernden Christbaum machen.
Philharmonie im Gasteig, München
20.12.2015
J. S. Bach – Weihnachtsoratorium
Simone Kermes, Sopran
Anne-Carolyn Schlüter, Alt
Martin Petzold, Tenor
Christian Immler, Bass
Münchener Bach-Chor
Bach Collegium München
Hansjörg Albrecht, Cembalo & Leitung