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100 Jahre Astor Piazzolla Der Tango-Mann mit der Liebe zu Bach

Er sagte einmal, er habe den Tango "einer ästhetischen Operation unterzogen". Und so machte er aus dem "Klang der Kaschemmen" Kammermusik. Vor 100 Jahren, am 11. März 1921 wurde der argentinische Komponist und Bandoneon-Spielers Astor Piazzolla geboren.

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Er war schon über 30 und hatte ein Stipendium für Paris. Da nahm er Unterricht bei der berühmten Kompositionslehrerin Nadia Boulanger. Die war damals Mitte 60 und eine Autorität mit großer Ausstrahlung: Weggefährtin von Größen wie Igor Strawinsky und Maurice Ravel, Lehrerin weltberühmter Komponisten, wie Aaron Copland und Leonard Bernstein. Ihre Wohnung in Paris war ein Treffpunkt der französischen Musikwelt. Nun also sollte jener Mann aus Argentinien zum Kreis ihrer Schüler stoßen, der einen ganzen Koffer voll eigener Partituren mitbrachte: Astor Piazzolla. Sie nahm sich wochenlang Zeit, seine Stücke durchzugehen, und sagte ihm dann: Sie könne den Geist darin nicht finden. Dann erst rückte Piazzolla damit heraus, dass er eigentlich vom Tango herkomme und als Hauptinstrument Bandoneon spiele. Sie ließ sich auf dem Klavier einen seiner Tangos vorspielen – legte dann Piazzollas Hände in ihre und sagte: "Das ist der wahre Piazzolla. Geben Sie es nie auf."

Es war, als würde ich bei Mama studieren.
Astor Piazzolla über seine Kompositionslehrerin Nadia Boulanger

Tango – keine Musik für edle Konzertsäle?

Schon mit 18 war Piazzolla Bandoneonist in einem bekannten Tango-Orchester von Buenos Aires – und mit 25 Chef eines eigenen Orchesters. | Bildquelle: © picture alliance/Jazz Archiv Mit einer – jedenfalls nach Piazzollas eigener Schilderung gegenüber dem Journalisten Natalio Gorin – leisen, sanften Bemerkung durchschlug die große Pädagogin Nadia Boulanger damals einen gordischen Knoten in der Biographie des Musikers. Er hatte sich geschämt für seine musikalische Herkunft: Schon mit 18 war er Bandoneonist in einem bekannten Tango-Orchester von Buenos Aires gewesen – und mit 25 Chef eines eigenen Orchesters. Das Bandoneon hatte er bei der Ankunft in Paris im Kleiderschrank des Hotelzimmers verwahrt. Unwürdig erschien ihm die Musik, die einst in Bordellen und Cabarets in Buenos Aires ihren Anfang genommen hatte: ein Klang mit der Aura des Verruchten, keine Musik für edle Konzertsäle! Bei der verehrten Komponisten-Mentorin mit der strengen Streckfrisur und der dicken Brille, die ihren Schülern stets am Nachmittag selbst den Tee servierte (Piazzolla: "Es war, als würde ich bei Mama studieren"), bei dieser "besten Pädagogin, die es gab in der Welt der Musik" wollte er sich ganz der großen klassischen Musik Europas widmen. "Wenn ich ihr die Wahrheit sage, wirft sie mich aus dem Fenster", dachte er.

Die Geburt einer neuen Musik: Tango Nuevo

Astor Piazzollas Sound ging um die Welt, erfüllte Kinofilme mit Sehnsuchts-Tönen, begeisterte in Konzerthallen von New York bis Wien. | Bildquelle: Pupeto Mastropasqua - wikipedia Doch es kam ganz anders: Genau diese Wahrheit schätzte Nadia Boulanger an ihm – wie übrigens auch an anderen Schülern, von Quincy Jones bis Philipp Glass. Piazzolla studierte bei ihr beflissen vor allem die Technik des Kontrapunkts – die Kunst des Findens von Gegenstimmen. Und das zahlte sich später aus: Denn dieser einfache "Tanguero", wie er sich selbst bis dahin nannte, dieser tanzbodenständige Tango-Musiker, konnte alsbald perfekte Fugen und fein gearbeitete Suiten schreiben. Doch vor allem: Er entwickelte ein Selbstbewusstsein als musikalischer Fortentwickler. Als er ein Jahr später nach Argentinien zurückkehrte, gründete er das Octeto Buenos Aires, in dem neben zwei Bandoneons, zwei Geigen, Bass, Cello und Klavier auch eine elektrische Gitarre ihren Platz hatte – und formte eine ganz neue Ausprägung der einstigen argentinischen Kaschemmen-Musik: den Tango Nuevo. Diese Art des Tango sollte in den darauffolgenden Jahrzehnten eine immense Karriere machen: Piazzollas Sound ging um die Welt, erfüllte Kinofilme mit Sehnsuchts-Tönen, begeisterte in Konzerthallen von New York bis Wien.

Der italienische Friseur und die Liebe zum argentinischen Sound

Der Weg zu diesem Glanz war alles andere als selbstverständlich. Astor Piazzolla wurde am 11. März 1921 als Kind eines aus Italien stammenden Elternpaars geboren. Als er vier war, wanderte die Familie wegen der schlechten wirtschaftlichen Lage aus: Sie ging nach New York, wo der Vater im Viertel Greenwich Village durch seine italienischen Kontakte Arbeit als Friseur fand. "Ich wurde in Argentinien geboren, aber ich wuchs in New York auf", sagte Piazzolla denn auch später bei einem berühmt gewordenen Konzert im Central Park vom 6. September 1987. Nur einige Jahre blieb die Familie in New York, aber diese Jahre waren prägend. Der Vater hörte jeden Abend Tango-Musik und kaufte für den Sohn ein Bandoneon. Der interessierte sich mehr für Sport und war enttäuscht, als der Vater ihm einen Karton mit einem Geschenk präsentierte und sich darin nicht, wie er gehofft hatte, Rollschuhe fanden, sondern ein seltsames Instrument mit einem Blasebalg und Knöpfen. Noch dazu das Instrument jener Musik, die er immer unfreiwillig mithören musste. Das Bandoneon, das Hauptinstrument des Tango, war im 19. Jahrhundert von dem Deutschen Heinrich Band erfunden worden und über Umwege in die Kaschemmen von Buenos Aires und Montevideo gelangt, von wo es eine ganz eigene Karriere startete. Es dauerte, bis der jugendliche Astor Piazzolla sich mit diesem Instrument anfreundete. Im Schulunterricht hatten ihn Brahms und Mozart begeistert. Später entflammte er für die Musik Johann Sebastian Bachs – und lernte viele von Bachs Stücken auf dem Bandoneon zu spielen.

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Bildquelle: Bayerischer Rundfunk

Paris-Stipendium für die "Sinfonietta"

Als er sich später, wieder in Argentinien, bei dem Bandleader und Bandoneonisten Aníbal Troilo bewarb, bei dem er von 1939 an auch spielte, sagte der, nachdem Piazzolla ihm Bach auf dem Bandoneon vorgespielt hatte: Spiel mir einen Tango! Natürlich engagierte Troilo den sehr begabten jungen Mann, der dann fünf Jahre lang bei ihm blieb, danach aber zunächst als freischaffender Solist arbeitete und 1946 schließlich sein eigenes Tango-Orchester gründete, das drei Jahre lang bestand. Er begann dann auch Werke für kammermusikalische und orchestrale Besetzungen zu schreiben, darunter 1954 eine "Sinfonietta", mit der er jenes Paris-Stipendium gewann, bei dem er Unterricht bei Nadia Boulanger nahm. Dieser Aufenthalt brachte ihn dazu, seinen eigenen Stil zu schärfen und zu perfektionieren.

Meine Musik gibt zu denken. Denen, die Tango lieben, und denen, die gute Musik mögen.
Astor Piazzolla

Lange Seufzer in fein gearbeitetem Moll

Über 300 Tangos komponierte Piazzolla im Laufe seines Lebens. Zu seinen bekanntesten Kompositionen gehört "Oblivion". | Bildquelle: © picture alliance/Jazz Archiv Über 300 Tangos komponierte Piazzolla im Laufe seines Lebens – und die Musik für Dutzende von Filmen, darunter "An der Nordbrücke" des Franzosen Jacques Rivette von 1982 und der italienische Historienfilm "Enrico IV" (Heinrich IV) von Marco Bellocchio mit Marcello Mastroianni in der Hauptrolle. In letzterem Film kommt Piazzollas besonders anrührende Komposition "Oblivion" vor: Ein lyrisches Stück mit einer Bandoneon-Melodie in c-Moll, die wie ein sich über einen ganzen Takt hinziehender Seufzer auf der Quinte beginnt und ein melodisches Meisterwerk voller geschickter Sequenzbildungen ist. Stücke wie dieses – mit Bandoneon und Streichorchester – zeigen, weshalb Piazzollas Musik so erfolgreich wurde. Sie sind eine seltene Verbindung aus emotional ergreifender Natürlichkeit und hoher kompositorischer Kontrolle: ganz feine Arbeit – aber in den Tönen spürt man die Herkunft abseits der polierten Parkette. "Tango ist ein trauriger Gedanke, den man tanzen kann", lautet eines der berühmtesten Zitate über diese Musik. Es stammt von dem Komponisten und Bühnenautor Enrique Santos Discépolo. Der starb 1951, lange vor Piazzollas Welterfolgen; doch kaum ein Ausspruch scheint besser auf die Töne Piazzollas zu passen. Denn Piazzollas Musik ist ebenso poetisch wie Discépolos Satz. Vielleicht müsste man ihn leicht umformulieren: ein trauriger Gedanke, den man hören kann.

Tangos zum Zuhören

Denn Piazzollas Musik ist keine Tanzmusik, sondern konzertante Musik, Musik zum Zuhören. Das gilt für seine markant-zackigen, dann wieder melancholischen Einzelstücke wie "Libertango" oder "Escualo", aber auch für größere Werke wie die Oper in 16 Bildern "Maria de Buenos Aires" von 1968. "Libertango" von 1973 ist vom Titel her programmatisch: Das Wort ist aus "Libertad" und "Tango" zusammengezogen, meint also einen Tango, der sich von traditionellen Fesseln befreit hat – und damit Piazzollas Gesamtwerk, den Neuen Tango. Häufig musste sich Piazzolla in Argentinien rechtfertigen für seinen freien Umgang mit der Musik. Er sagte daraufhin, spürbar gekränkt: Das Parfum des Tango reiche eigentlich nur bis zur Ringstraße von Buenos Aires. Er aber, Piazzolla, habe den Tango einer ästhetischen Operation unterzogen. Er habe den Tango gerettet. Sicher ist: Ohne den konzertanten Kompositionen Piazzollas hätte dieses Musikgenre weltweit nicht so viele Musiker fasziniert, die es in die Zukunft weitertragen. Piazzolla hat den Tango von traditionellen Fesseln befreit und ihm Flügel verliehen, um über die genannte Ringstraße hinaus zu gelangen. Er sagte unter anderem: "Ich habe studiert bis zum Umfallen. Ich bin hundert Mal gegen die Wand gelaufen und hundert Mal wieder aufgestanden, und deshalb bin ich der, der ich bin." Und: "Ich bin ein Tango-Mann. Aber meine Musik gibt zu denken. Denen, die Tango lieben, und denen, die gute Musik mögen."

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Bildquelle: Alescha Birkenholz

Geliebtes Album mit Jazzer Gerry Mulligan

Piazzolla holte sich nicht nur Inspirationen aus der klassischen Musik, sondern auch vom Jazz. Sein Album "Summit" von 1974 mit dem Baritonsaxophonisten Gerry Mulligan nannte er "eines der schönsten Dinge in meinem Leben". Dem Jazz war er bereits in New York begegnet, und er schätzte diese vitale Musik, die in ihrem starken emotionalen Ausdruck und ihrer rhythmischen Prägnanz große Verwandtschaft zum Tango hat. Dem Journalisten Natalio Gorin, Verfasser von Piazzollas "Erinnerungen", sagte er: "Für die Tangueros der vierziger Jahre war Jazz immer ein böses Wort, was ich für einen furchtbaren Irrtum hielt, denn es gibt ja viele Berührungspunkte. (…) Ich war begeistert vom Klang des Orchesters von Stan Kenton, vom Rhythmus, den es hatte. Das war es, was ich machen wollte, mit ähnlichen Harmonien arbeiten, aber mit einem Unterschied. Anstelle von Bläsern habe ich Streicher und Bandoneons. Wenn ich einmal Trompeten, Posaunen und Saxophone einsetzte, war das Resultat entsetzlich."

Das klangschönste Argument gegen Spartentrennung

Piazzolla starb am 4. Juli 1992 in Buenos Aires. Zwei Jahre zuvor hatte er in Paris einen Schlaganfall erlitten. | Bildquelle: picture-alliance/dpa Piazzolla war ein musikalischer Weltmann: ein Musiker, dessen Klänge mehrere Kontinente erreichten. Verehrt wurde und wird der Musiker und Komponist nicht zuletzt in Europa. Während der Militärdiktatur in Argentinien (1976 bis 1983) lebte er vor allem in Italien. Er war in Frankreich und Italien als Filmkomponist gefragt, trat auf den großen Bühnen Europas auf – nicht zuletzt zusammen mit der von ihm hochgeschätzten Sängerin Milva – und komponierte für die deutsche Tanztheater-Ikone Pina Bausch eine Ballettmusik. Piazzolla starb am 4. Juli 1992 in Buenos Aires, zwei Jahre zuvor hatte er in Paris einen Schlaganfall erlitten. Seine Musik wird noch immer von Interpreten unterschiedlichster Genres nachgespielt: Die Liste reicht von dem großen Cellisten Yo-Yo Ma über die niederländische Geigerin Isabelle van Keulen bis hin zu jüngeren Jazzern wie Akkordeonist Vincent Peirani und Saxophonist Émile Parisien. Durchweg sind das Musikerinnen und Musiker, die mit Astor Piazzolla eine Sache gemeinsam haben: Weltoffenheit. Der Tango Nuevo des Astor Piazzolla ist eines der klangschönsten Argumente gegen musikalische Spartentrennung. Und die Chancen stehen gut, dass er das noch lange bleibt.

100 Jahre Astor Piazzolla – Sendungen auf BR-KLASSIK

"Was heute geschah: Astor Piazzolla wird geboren"
"Allegro" am Donnerstag, 11. März 2021 um 8:15 Uhr

"Der Tangokönig - Astor Piazolla zum 100. Geburtstag"
"Mittagsmusik" vom 8. bis 12. März 2021 ab 12:05 Uhr

"Libertango" - Hommagen an den argentinischen Bandoneon-Meister und Komponisten Astor Piazzolla"
"Jazztime" am Donnerstag, 11. März 2021 ab 23:05 Uhr

"Der Revolutionär des Tango"
"Musikfeature" am Freitag, 12. März 2021 ab 19:05 Uhr

"Pionier des Tango nuevo und leidenschaftlicher Bandoneonista"
"Musik der Welt" am Samstag, 13. März 2021 ab 23:05 Uhr