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"Aufstehen für die Kunst" zieht vor Verfassungsgericht Gerhaher: "Ich bin kein Verschwörungstheoretiker"

Vergangene Woche hat der Bayerische Verwaltungsgerichtshof den Eilantrag der Initiative "Aufstehen für die Kunst" abgelehnt. Nun zieht die Gruppe vor das Verfassungsgericht. Einer ihrer prominenten Mitstreiter: Christian Gerhaher. Der Bariton übt im BR-KLASSIK-Interview heftige Kritik an der Politik und zeigt Verständnis für die Schauspieler-Aktion #allesdichtmachen.

Bildquelle: Gregor Hohenberg / Sony Classical

BR-KLASSIK: Der Bayerische Verwaltungsgerichtshof hat den Eilantrag der Initiative "Aufstehen für die Kunst" gegen die Schließung von Kultureinrichtungen abgelehnt. Nun ziehen Sie vors Bundesverfassungsgericht. Warum?

Christian Gerhaher: Uns beschäftigt und beunruhigt, dass unser Argumentationsstrang überhaupt nicht aufgegriffen wurde, nämlich, dass die Theater, die Opernhäuser, die Konzertsäle mit sehr vielen Studien belegtermaßen argumentieren können, dass sie eine sehr geringe Infektionsgefahr für mögliche Besucher darstellen. Es wurde sogar gesagt, dass dieses Argument für den Bayerischen Verwaltungsgerichtshof nicht zählt, weil die Studien nicht abgeschlossen seien. Nun sind es aber sehr viele Studien, die schon während ihrer nicht abgeschlossenen Phase darauf hindeuten, dass keine größere Infektionsquelle in den Theatern und Opernhäusern vorhanden ist. Und es gibt auch eine Studie, die von der Bayerischen Staatsoper selbst finanziert und von der TU München durchgeführt wurde – die ist tatsächlich abgeschlossen, und die Ergebnisse sind eigentlich insgesamt eindeutig.

Die Interpretation des Verfassungsartikels muss neu geregelt werden
Christian Gerhaher, Initiative 'Aufstehen für die Kunst'

Die Initiative "Aufstehen für die Kunst" hat Klage beim Bundesverfassungsgericht eingelegt. | Bildquelle: picture-alliance/dpa Man könnte es so zusammenfassen: Die sichersten Plätze öffentlichen Lebens sind zurzeit Opernhäuser, Theater und Konzertsäle. Ich zitiere mal sinngemäß, was in der Pressemitteilung des Bayerischen Verwaltungsgerichts stand, nämlich, dass Kunst und Kulturgenuss von der Kunstfreiheit nicht gedeckt sind. Wenn sowas vereinbar ist mit einem Verfassungsartikel, dann muss die Interpretation dieses Verfassungsartikels neu geregelt werden. Denn das entspricht einfach nicht der Realität der Künste. Der Selbstbegriff der Künste, also der Versuch, das eigene Wesen zu definieren, kann nicht ohne ein Publikum stattfinden. Das heißt, das Publikum hat eigentlich einen immanenten Interpretationsauftrag, und dieser wird von diesen Gerichten nicht gesehen. Das ist ein großes Problem. Und wir hoffen, dass durch unsere Verfassungsbeschwerde beim Bundesverfassungsgericht dieser Punkt gesehen wird, und dass vielleicht dadurch angestoßen wird, hier neu zu bewerten.

FORDERUNGEN AN DIE POLITIK

BR-KLASSIK: Das heißt, jetzt mal ganz einfach formuliert: Sie, Herr Gerhaher, haben ja durchaus die Erlaubnis, weiterhin zuhause zu singen. Dabei ist völlig egal, ob jemand zuhört oder nicht. Kann man das so überspitzt formulieren? Sie haben kein Recht darauf, dass irgendjemand Ihnen zuhört.

Christian Gerhaher: Es ist absurd, zu sagen, Sie können Ihre Kunst zuhause machen. Kunst braucht immer Kommunikation, sonst ist es keine. Wenn ein Pfarrer eine Messe hält, ohne dass ihm ein Gläubiger zuhört, dann ist sie es auch keine Messe.

Es ist für die Veranstalter die größte Not.
Christian Gerhaher, Initiative 'Aufstehen für die Kunst'

Christian Gerhaher bei der Probe zum BR-Gemeinschaftskonzert "Wir für die Musik" im Mai 2020 | Bildquelle: © BR / Astrid Ackermann Obwohl jetzt absehbar ist, dass die Impfungen langsam greifen, dass die Zahlen vielleicht demnächst sinken, werden dennoch ständig weiterhin Konzerte abgesagt. Es ist für die Veranstalter die größte Not. Und ich finde, die Politik sollte wirklich langsam begreifen, dass diese Studienergebnisse, die sagen, hier liegt so wenig Gefahr vor, ins politische Handeln einfließen müssen. Es muss gesagt werden, diese gesellschaftlichen Bereiche sind nun wirklich als erste dran, weil sie einfach ungefährlich sind und weil die Menschen aus diesen Bereichen ihr Leben wieder zurückhaben müssen.

BR-KLASSIK: Kulturorte sind auch Begegnungsstätten. Ist für Sie Kultur auch so eine Art Kitt der Gesellschaft?

Christian Gerhaher: Es kann einfach nicht sein, dass eine Gesellschaft ohne Kultur ist. Die darstellenden Künste wurden de facto im November abgeschafft. Davor war im Grunde auch nicht viel los, weil ja Sommerpause war, davor der erste Lockdown. Also wir sind eigentlich seit über einem Jahr am Boden.

Wir lernen nicht nur aus dem Stalinismus, sondern auch aus dem Nationalsozialismus, dass die Kunst frei sein muss
Christian Gerhaher, Initiative 'Aufstehen für die Kunst'

Ganz verheerend war dieser Definitionsversuch in den Papieren des "Lockdown light". Da wurde diese Art von Kultur von Herrn Söder als Unterhaltungsmittel und Erbauungsmittel beschrieben. Das geht nicht einher mit der notwendigen Freiheit der Künste, die im Artikel 5 des Grundgesetzes niedergelegt ist. Denn sobald ein Politiker sagt, die Kunst ist Freizeitaktivität, Unterhaltungsmedium, Erbauungsmedium – dann wird Kunst instrumentalisiert. Und wie sehr Kunst instrumentalisiert werden kann, haben wir im Zwanzigsten Jahrhundert genügend gelernt. Wir lernen nicht nur aus dem Stalinismus, sondern auch aus dem Nationalsozialismus und allen möglichen totalitären Regimen, dass die Kunst frei sein muss und nicht in ihrem Zweck definiert werden kann. Das ist etwas, was die Politiker jetzt ganz schnell bitte einsehen müssen.

FUSSBALL JA, KONZERTE NEIN?

BR-KLASSIK: Unlängst wurden die Spielorte für die Fußball-Europameisterschaft in diesem Sommer vergeben. München konnte punkten, 14.000 Fans dürfen rein ins Stadion – natürlich nur, wenn die Corona-Zahlen stimmen. Ärgert Sie das?

Bis zu 14.000 Fans sollen im Sommer die Münchner Allianz-Arena zur Fußball-EM besuchen dürfen, wenn es die Infektionszahlen zulassen. | Bildquelle: picture-alliance/dpa Christian Gerhaher: Mich persönlich ärgert das. Was ist denn der Unterschied? Dann muss man auch sagen, ein Konzertsaal, ein Opernhaus oder ein Theater ist ein besonderer Ort und ein besonders geschützter Ort. Denn hier sitzt jeder an seinem Platz, und hier ist jeder ruhig. Hier schreit keiner, weil es keine Tore gibt, und es trinkt auch keiner was. Es singt auch keiner mit wie in der Kirche beispielsweise. Und wenn eine Infektion stattgefunden hat, dann kann man nachverfolgen, wer drum herum gesessen hat. Das kann man nicht mal in der Kirche. Also ich verstehe nicht, warum die Politik hier so sehr die Tatsachen negiert: nämlich, dass die Darstellenden Künste als gesellschaftlicher Ort so ungefährlich sind.

Ich bin kein Verschwörungstheoretiker.
Christian Gerhaher, Initiative 'Aufstehen für die Kunst'

Es wirkt so, dass man fast paranoid fragen muss: Gibt es etwas, das uns besonders eklig macht? Dass man sagt, wir wollen diese Künste nicht? Ich glaube es natürlich nicht. Ich bin kein Verschwörungstheoretiker, und paranoid bin ich auch nicht. Aber Haltung und Handlungsweise der Politik sind nicht mehr verständlich.

GERHAHER: LACHEN ÜBER #ALLESDICHTMACHEN

BR-KLASSIK: Gerade in den letzten zwei Wochen hat man ja erlebt, dass ein Auf-sich-aufmerksam-Machen, wie es die Schauspielerinnen und Schauspieler mit der Aktion #allesdichtmachen versucht haben, ganz schön nach hinten losgehen kann.

Schauspieler Jan Josef Liefers, einer der Künstler, der sich an der Aktion #allesdichtmachen beteiligt hat. | Bildquelle: YouTube/allesdichtmachen Christian Gerhaher: Ich habe mir einige dieser kurzen Clips angeschaut und finde, dass einige sehr witzig waren, andere waren vielleicht weniger witzig und weniger intelligent. Egal, ich muss da nicht drüber urteilen. Was wir hier gesehen haben, sind keine politischen Statements. Das waren Äußerungen von Künstlern, und es war eine künstlerische Äußerung. Und vor allem waren es Äußerungen mit einem ganz wichtigen Mittel der Literatur und damit auch des Schauspiels, nämlich mit Ironie. Und ich verstehe nicht, wie man in Zeiten wie diesen, wo doch sowieso nichts mehr zum Lachen ist, nicht drauf erpicht sein kann, extra zu lachen.

Kann man überhaupt nicht mehr mit Differenzierung rechnen in dieser Gesellschaft?
Christian Gerhaher, Initiative 'Aufstehen für die Kunst'

Was ist denn das? Das sind Künstler, die sich äußern. Kann man überhaupt nicht mehr mit Differenzierung rechnen in dieser Gesellschaft? Ich finde es haarsträubend. Ich bin auch nicht mit jedem Clip einverstanden. Aber die sind ja wirklich noch von der Meinungsfreiheit und von der künstlerischen Freiheit gedeckt. Und das alles ist vielleicht auch ein Zeichen dafür, dass die Künste einfach schon zu lang aus unserer Gesellschaft entfernt worden sind. Ich kann nur appellieren, dass die Politiker ihre Handlungen und ihre Gesetze hier noch mal wirklich überdenken, dass sie sagen, die Kultur ist für unser Land jetzt wirklich wichtiger. Zumal, da sie laut Studien so ungefährlich ist.

Sendung: "Leporello" am 3. Mai 2021 ab 16:05 Uhr auf BR-KLASSIK