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Premierenkritik – Strauss' "Rosenkavalier" an der Bayerischen Staatsoper Barrie Kosky dreht an der Uhr

Ein neuer "Rosenkavalier", inszeniert von Regiestar Barrie Kosky und dirigiert vom künftigen Generalmusikdirektor Vladimir Jurowski: Das hätte eigentlich der Höhepunkt der Saison an der Bayerischen Staatsoper werden sollen. Doch Corona macht Theater mit Publikum vorerst noch unmöglich. Und so war auch diese Premiere nur mit reduzierter Orchesterbesetzung im Videostream und im Radio zu erleben. Trotz allem: Ein beglückender Abend, der sicher zwischen Ironie und Kitsch, Slapstick und Tiefsinn balanciert. Die Zeit, dieses "sonderbar Ding", vergeht wie im Flug.

Bildquelle: Wilfried Hösl

Ist es wirklich schon so spät? Ganz zu Beginn beherrscht eine große Standuhr das Bild. Und sie geht rund. Allmählich dreht sie sich wie ein riesiger Zeiger. Schneller und schneller rotiert sie, während das Orchester auf Touren kommt: Richard Strauss hat im Vorspiel zum "Rosenkavalier" den unzweideutigsten und ungezwungensten Orgasmus der Musikgeschichte komponiert. Die Zeit selbst kommt ins Wirbeln, und im Auge dieses erotischen Sturms stecken die Marschallin und Oktavian. Das sieht man nicht, man hört es nur. Dann bleibt die Uhr stehen, und aus dem Uhrenkasten treten die Liebenden heraus. Es war schön, aber jetzt ist es vorbei. Und es ist schnell gegangen. Doch für ein paar flüchtige Momente war das Liebespaar jenseits der Zeit – ein letztes Mal, wie sich zeigen wird.

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 Nichts ist für die Ewigkeit

Regisseur Barrie Kosky hat eine schwierige Aufgabe, und er löst sie mit Bravour. An der Bayerischen Staatsoper, wo Richard Strauss zu den Hausgöttern zählt, hatte dessen beliebteste Oper zuletzt 1972 Premiere. Fast 50 Jahre gehörte die rokkokoselige Rosenkavalier-Inszenierung von Otto Schenk zum Inventar des Nationaltheaters. Die Tradition wog schwer, schließlich hatte Dirigenten-Legende Carlos Kleiber einst die ehrwürdigen Kulissen geadelt. Für Münchner Opernfans fühlte es sich ein bisschen so an, als stünde Schenks Inszenierung unter dem Schutz einer musealen Ewigkeitsklausel. Nach all den Jahrzehnten schien es für einen Abschied irgendwie fast schon zu spät. Doch die Zeit, diese Furie des Verschwindens, ist unerbittlich: Es war schön, aber jetzt ist auch das vorbei.

 Opulente und hintersinnige Bilderwelt

Bildquelle: Wilfried Hösl Barrie Koskys neuer Rosenkavalier ist furios, aber weder radikal noch verstörend. Selbst konservative Opernfans werden sich mit seiner zugleich kulinarisch-opulenten und hintersinnigen Bilderwelt versöhnen. Ironisch gebrochen defilieren die Zitate vorüber: Das nobel traditionelle Inventar des Schlafzimmers der Marschallin schimmert in fahlem Schwarz-Weiß. Der italienische Tenor, der ihr seine Dienste anbietet, erinnert mit seinem Fantasie-Kostüm an den Farinelli-Film. Und Oktavians Glitzerkutsche sieht aus wie von Märchenkönig Ludwig II. persönlich designt. Dabei hält Kosky virtuos die Bälle in der Luft. Sicher balanciert er zwischen Ironie und Kitsch, Slapstick und Tiefsinn.

Der zweite Akt spielt in einer barocken Gemäldegalerie. Aus den wie von Rubens gemalten Allegorien springen die Faune heraus und verwandeln sich ins Gefolge des schürzenjagenden Provinz-Barons Ochs von Lerchenau. Koskys Bilderwelt ist durch und durch barock: sinnenfroh und allegorisch zugleich. Damit trifft sie ins Herz der Ästhetik von Textdichter Hugo von Hofmannsthal. Durch die temporeich inszenierte Situationskomödie schlurft als Allegorie der alles beherrschenden Zeit ein uralter, halbnackter, geflügelter Greis: Chronos, die Verkörperung der Vergänglichkeit. Diese stumme Rolle wird zum Spielmacher. Er souffliert den Figuren, verzaubert und ernüchtert sie, schlägt sie mit Blindheit, öffnet ihnen die Augen.

 Theater im Theater

"Die Zeit ist ein sonderbar Ding" singt die Marschallin, wenn ihr plötzlich bewusst wird, dass das Alter unaufhaltsam ist. Und die vergängliche Welt, so ergänzt Barrie Kosky ganz im Sinn der barocken Allegorik, ist eine Bühne. Weshalb der dritte Akt als Theater im Theater die Inszenierung verdoppelt. Zum Schluss entschwebt Oktavian mit seiner neuen Geliebten im Bühnenboden, während die Marschallin desillusioniert am Boden bleibt. Das letzte Wort behält die unerbittliche Zeit, alles andere ist Traum, kann nicht wirklich sein: Es war schön, aber jetzt ist es vorbei.

Großartiges Sängerensemble

Bildquelle: Wilfried Hösl Dass dieser so gar nicht bilderstürmerische Abend beglückend gelingt, liegt natürlich vor allem an den großartigen Sängerinnen und Sängern, die sich von Koskys Spielfreude beflügeln lassen. Allen voran Christoph Fischesser als Ochs: Nervös, boshaft und vital, gestisch und stimmlich voller Energie, kraftvoll und mit beeindruckender Tiefe – eine Idealbesetzung. In jeder Lage Verlass ist auch auf Johannes Martin Kränzle als Faninal. Samantha Hankey als Oktavian hat einen höhensicheren, sehr individuell timbrierten Mezzo mit starkem, aber angenehmem Vibrato: Aus dem Zusammenspiel dieser ganz eigenen, unverwechselbaren Stimmfarbe mit Hankeys faszinierender androgyner Austrahlung entsteht ein fesselndes Rollenporträt. Traumhaft schön singt Katharina Konradi: Ihr Sopran schwebt über den Dingen, leicht und geschmeidig, eine Stimme, in die man sich verlieben kann. Darstellerisch wie gesanglich beherrscht Marlis Petersen als Marschallin die Bühne: Ihr heller Sopran klingt fokussiert und wunderbar intakt und hat doch genug erlebt, um glaubhaft und berührend vom Altern erzählen zu können. Der Monolog über die Zeit, das sonderbar Ding, ist einer der Höhepunkte des Abends.

Kammermusik statt Vollfettsound

Hier passt auch die reduzierte Orchesterfassung ausgezeichnet: Kammermusik statt symphonischem Vollfettsound. Das riesige Strauss-Orchester wäre mit den Corona-Abständen im Graben nicht kompatibel gewesen. Die Bearbeitung von Eberhard Kloke orientiert sich geschickt am Klang des Kammerorchesters in Strauss’ "Ariadne". Natürlich gibt es Momente, in denen man die überwältigende Wirkung der Originalpartitur vermisst. Umso größer ist die Bewunderung für das Bayerische Staatsorchester: Kein Streicher kann sich im Tutti verstecken, alles liegt offen – und bei Vladimir Jurowski, dem künftigen Generalmusikdirektor, in besten Händen. Souverän hält er die Fäden zusammen, absolut kitschfrei formt er den Klang, ohne Larmoyanz und aufdringlichen Schmäh, dafür mit berührenden Zwischentönen. Ein starker Grund mehr, sehnsüchtig auf den Tag zu warten, an dem Oper nicht mehr nur Fernsehen, sondern endlich wieder Theater ist: Echtzeit, hier und jetzt, körperlich nah. Irgendwann wird die Zeit, diese Furie des Verschwindens, doch hoffentlich auch diese Pandemie zur Vergangenheit machen.

Besetzung

Regie: Barrie Kosky
Musikalische Leitung: Vladimir Jurowski
Octavian: Samantha Hankey (Debüt)
Die Feldmarschallin: Marlis Petersen (Debüt)
Sophie: Katharina Konradi (Debüt)
Der Baron Ochs auf Lerchenau: Christof Fischesser

Sendung: "Allegro" am 22. März 2021 ab 6:05 Uhr auf BR-KLASSIK