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Premierenkritik - Honeggers "Jeanne d'Arc au bucher" in Lyon Märtyrertod im Klassenzimmer

Im Mai wird Romeo Castellucci Wagners "Tannhäuser" an der Bayerischen Staatsoper in München inszenieren. Gerade führt er in Lyon Regie - in Honeggers "Jeanne d'Arc au bûcher". In seienr Inszenierung stirbt die Märtyrerin nicht auf dem Scheiterhaufen, sondern gräbt sich selbst ihr Grab - und zwar in einem Klassenzimmer. Am Wochenende feierte das Stück Premiere.

Bildquelle: © Stofleth

Der Anfang könnte auch von Christoph Marthaler inszeniert sein. In einem altertümlichen Klassenzimmer mit abblätternder, hässlich grüner Wandfarbe und flackernder Neonbeleuchtung ist gerade Schulschluss. Die Schüler stürmen nach draußen, während ein Hausmeister in Zeitlupentempo Ordnung macht. Das heißt, zunächst macht er Ordnung bis er innehält und plötzlich allergrößte Unordnung verursacht, Stühle und Tische auf einen Haufen wirft, die Tafel von der Wand reißt und den Bodenbelag wegzerrt. Und dann auch noch die darunterliegenden Bodenbretter und immer weiter nach unten, bis er mit den bloßen Händen in der Erde wühlt.

Regisseur Castellucci will Ideologie durchbrechen

Natürlich, die Legende von der heiligen Jungfrau Jeanne d’Arc, die die Engländer besiegte, ist Basiswissen an Schulen – zumindest in Frankreich. Doch Regisseur Romeo Castellucci will tiefer gehen, den Geschichtsballast beiseite räumen. "Es geht in erster Linie darum, gegen die Symbole zu rebellieren", sagt Castellucci, "gegen das nostalgische Gedenken und dagegen, die himmlische Heldin zu feiern. Es geht darum, dieses Bild und seine ideologischen Schichten radikal zu durchbrechen."

Es geht darum, gegen die Symbole zu rebellieren.
Romeo Castellucci, Regisseur

Faszinierend und verstörend zugleich

Das gelingt Castellucci in seiner Inszenierung dieses ohnedies mehr symbolistischen als realistischen dramatischen Oratoriums von Arthur Honegger und Paul Claudel faszinierend und verstörend gleichermaßen. Während die Stimme von Jeanne d’Arc zunächst noch aus dem Hausmeister wie ein Geist spricht, der in diesen hineingefahren ist, so wandelt sich die Figur mehr und mehr tatsächlich zur Frau Jeanne d’Arc, hat plötzlich langes schwarzes Haar und steht nackt in ihrer ganzen Weiblichkeit und Verletzlichkeit auf der Bühne, während um sie herum unsichtbar ein Gericht über sie urteilt, ihr Bruder Dominique mit ihr Zwiesprache hält, ihr Kindheitserlebnisse durch den Kopf gehen. Die Zuschauer hören die Stimmen der Sängerinnen und Sänger und die des Chors von unten, von oben, von den Rängen des Theaters - aber sie sehen sie nicht. Nur ein paar Personen des Lehrerkollegiums stehen manchmal an der Seite neben dem Klassenraum - unter ihnen Dominique. Sie ahnen, dass etwas Seltsames in dem Klassenzimmer vor sich geht, können aber nicht hinein, weil es von innen versperrt ist.

Musikalisch grandios

Fantastisch ist vor allem die Leistung der Schauspielerin Audrey Bonnet in der Sprechrolle der Jeanne d’Arc, die sich am Ende ihr Grab mit den eigenen Händen buddelt und geradezu apotheotisch von einer alten, ebenfalls nackten Frau in die Erde gebettet wird. Grandios in dieser außergewöhnlichen Aufführung, die die Legende der Jeanne d’Arc als eine Art Reinkarnation vorstellt, auch die musikalische Umsetzung in der Gesamtleitung durch den Chefdirigenten der Oper Lyon Kazushi Ono. Ono verlebendigt Honeggers ungemein vielgestaltige und anspielungsreiche Partitur mit beispielhafter Klarheit und einer mit der Inszenierung korrespondierenden sich immer weiter steigernden Eindringlichkeit.

Honeggers "Jeanne d'Arc" in Lyon

Oper Lyon

Inszenierung: Romeo Castellucci
Musikalische Leitung: Kazushi Ono

Premiere:
21. Januar 2017, 20.00 Uhr
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Im Mai wird Romeo Castellucci an der Bayerischen Staatsoper in München Wagners Oper "Tannhäuser" inszenieren.