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Zum Tod des Dirigenten James Levine Künstler und Täter – Nachdenken über den Fall Levine

James Levine war einer der teuersten Dirigenten der Welt. Jahrzehntelang leitete er mit der Metropolitan Oper in New York einen der wichtigsten Musiktempel der Welt. Erst als er schon alt und krank war, kam die dunkle Seite seines Lebens ans Licht: Levine hatte offenbar über Jahrzehnte junge Männer sexuell missbraucht. Der Fall ist nicht nur tragisch, sondern auch symptomatisch. Und er stellt Fragen an den Musikbetrieb, die noch lange nicht aufgearbeitet sind. Wie die New York Times berichtet, ist Levine am 9. März im Alter von 77 Jahren gestorben.

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Wer über James Levine redet, kann nicht nur über Kunst und Musik sprechen. Es reicht auch nicht, von seinen Verfehlungen gegenüber jungen Männern zu erzählen und von den Versuchen, sie juristisch aufzuarbeiten. Das Leben von James Levine, das nach außen hin Jahrzehnte lang so glanzvoll verlief und dann so traurig und beschämend endete, ist ein Symptom. In diesem Leben spiegeln sich strukturelle Fehlentwicklungen, die letztlich die gesamte klassische Musikwelt nachdenklich machen müssten.

Möglich waren seine großen künstlerischen Leistungen ebenso wie seine Vergehen nur in einem ganz bestimmten Umfeld: in einem Musikbetrieb, der Stardirigenten wie Genies in eine andere Sphäre entrückt, ihnen nahezu unantastbare Macht verleiht. Auch deshalb hat der Fall Levine die Welt der klassischen Musik in tiefe Verlegenheit gestürzt. Bestes Beispiel dafür war sein 75. Geburtstag im Jahr 2018.

Schweigen war und ist keine Lösung

Wenn ein berühmter Dirigent 75 wird, gibt es eigentlich ein festgelegtes Ritual. Orchester, mit denen der Jubilar zusammengearbeitet hat, reißen sich um Auftritte in möglichst großer Nähe zu diesem besonderen Geburtstag. Plattenlabels werfen Boxen mit den schönsten CDs des Künstlers auf den Markt. Und Journalisten schreiben und senden Porträts. Als Levine, der von den 70er-Jahren an bis zum Dezember 2017 einer der teuersten Dirigenten der Welt war, seinen 75. Geburtstag feierte – nunmehr gezeichnet von Krankheit und verstrickt in zähe juristische Auseinandersetzungen – herrschten fast überall Sprachlosigkeit und Scham. Doch Schweigen war und ist keine Lösung.

Musikalisches Wunderkind

Aber der Reihe nach. James Levine war ein musikalisches Wunderkind. Geboren wurde er 1943 in Cincinnati als Sohn eines Textilfabrikanten und einer Schauspielerin. Seine absolut außergewöhnliche Begabung wurde früh erkannt. Schon mit zehn Jahren trat er als Pianist auf. An der Juilliard School in New York bekam er Unterricht von den besten Lehrern. Dass er neben dem romantischen Standardrepertoire auch die Musik der Moderne, nicht zuletzt der Zweiten Wiener Schule rund um Arnold Schönberg, schätzte und exzellent dirigierte, verdankt sich dem Unterricht durch den legendären Geiger Walter Levin. Als Primarius des LaSalle Quartetts hatte Levin einen ungewöhnlich weiten musikalischen Horizont – und er vermittelte ihn seinem begabten Schüler.

Mit 29 Chef an der Met

Sein Debut an der Met gab Levine 1971. Der junge Mann mit den wuscheligen Locken eroberte das Haus im Sturm. Zwei Jahre später wurde er mit nur 29 Jahren Chefdirigent, 1976 Musikdirektor auf Lebenszeit. Die viereinhalb Jahrzehnte unter seiner Leitung gelten als künstlerische Glanzzeit. Hunderte musikalisch herausragende Abende verdankte das Haus seinem größten Star, aber auch wichtige programmatische Impulse. Viele Sängerinnen und Sänger, die er mit seiner atmenden Zeichensprache auf Händen trug, liebten ihn. In Levine sahen sie einen Helfer, der viel von Gesang, von den Möglichkeiten und Grenzen menschlicher Stimmbänder auf der Bühne verstand. Dieses Einfühlungsvermögen zeigte er auch als kongenialer Liedbegleiter am Flügel. Und das Niveau des Met-Orchesters hob er so deutlich und nachhaltig, dass es auch im symphonischen Bereich weltweit konkurrenzfähig wurde.

Eine Dekade auf dem Grünen Hügel

John Tomlinson und James Levine bei den 84. Bayreuther Festspielen | Bildquelle: picture-alliance/dpa Regelmäßig zu Gast war Levine auch bei den Berliner und Wiener Philharmonikern. Mit den Wienern machte er zahlreiche Mozart-Einspielungen. Wegen ihres überzuckerten Klangs wirken sie heute schon ein wenig altmodisch. Levine war eben durch und durch Dramatiker. Ein begnadeter Geschichtenerzähler, dem das spätromantische Pathos näher lag als die rein musikalische Entwicklungslogik der Symphonien von Mozart, Beethoven oder Brahms.

Auch Levines Wagner war eher schwerblütig denn luzide. Sein "Parsifal" wirkte noch gewichtiger als bei anderen Dirigenten. Knapp fünf Stunden reine Musikzeit beanspruchte das Weltabschiedswerk unter seiner Leitung. 1982, zum 100. Jahrestag der "Parsifal"-Uraufführung, und insgesamt zehn Sommer lang vertrat Levine in Bayreuth eine Gegenposition zur flotten Gangart von Pierre Boulez. Der hatte im Orchestergraben auf dem Grünen Hügel, dem "mystischen Abgrund", durchschnittlich eine geschlagene Stunde weniger verbracht - für die Umsetzung derselben Partitur.

Von München nach Boston

1999 wurde James Levine Chefdirigent der Münchner Philharmoniker. Nach der Ära unter dem Mikrofon-abstinenten Sergiu Celibidache erhoffte sich das Orchester durch den internationalen Star endlich Zugang zum Plattenmarkt. Richtig heimisch wurde Levine in München nie. Oft machte er das Publikum im Gasteig ein wenig ratlos mit seinen nicht immer ausreichend geprobten Mammutprogrammen. Schon 2004 wechselte er über den Atlantik zum Boston Symphony Orchestra.

Doch mit keiner Institution war und blieb er so eng verbunden wie mit der Met in New York. Zum Problem wurde das nach einem Sturz im Jahr 2006. Nicht nur heftige Rückenschmerzen hinderten ihn am Dirigieren, auch seine fortschreitende Parkinson-Erkrankung. So konnte er in den letzten Jahren seine Aufgaben als Musikdirektor der Met kaum noch wahrnehmen. Abtreten wollte er dennoch nicht. Erst 2016 machte Levine endlich den Weg für seine Nachfolge frei: Er wurde Ehrendirigent und trat von seinem Posten als Musikdirektor auf Lebenszeit zurück.

Ein Jahr später kam ans Licht, worüber im Klassikbetrieb schon so lange spekuliert worden war – teils öffentlich, teils hinter vorgehaltener Hand –, ohne dass es jemals zu einer Klärung der Vorwürfe gekommen war. Mehrere Männer machten ihm im Dezember 2017 in einem Zeitungsartikel zum Vorwurf, er habe sie, teilweise über Jahre, sexuell missbraucht. Auch um Missbrauch von Minderjährigen ging es dabei.

Schwere Vorwürfe sexuellen Missbrauchs

James Levine am Pult des Boston Symphony Orchestra (2007) | Bildquelle: picture-alliance/dpa Das gleichbleibende Muster: Levine forderte, so die übereinstimmende Darstellung der Opfer, sexuelle Willfährigkeit als Gegenleistung für Karriereförderung. Offenbar hatte er über Jahrzehnte seine Macht und seinen Ruhm als einer der berühmtesten Dirigenten der Welt dafür ausgenutzt. Plötzlich rückten alle ab von Levine. Die Met – es blieb unklar, wieviel die Verantwortlichen von den Vorgängen gewusst hatten – kündigte seinen Vertrag als Ehrendirigent. Die Taten selbst waren allerdings verjährt: Vor Gericht blieb Levine straffrei. Immerhin wurde die Met vom Vorwurf freigesprochen, sie habe Rufmord an ihrem früheren Chef begangen. Gerichtlich war damit festgestellt: Die Vorwürfe waren in der Sache begründet. Doch ob damit auch die Kündigung rechtens war, wurde nie abschließend geklärt: Über den Vergleich, den Levine mit seinem früheren langjährigen Arbeitgeber schloss, wurde Stillschweigen vereinbart.

Für die Welt der klassischen Musik war und ist Stillschweigen keine Lösung – auch nicht im Angesicht des Todes eines großen Künstlers, dessen dunkle Seiten erst viel zu spät ans Licht kamen. Seiner künstlerischen Leistung gebührt Respekt. Seinen Opfern auch. Deshalb kann die Klassikszene mit Levines Tod nicht zur Tagesordnung übergehen. Brancheninsider sagen, jeder habe es gewusst. Die Grüne Fraktion im Münchner Stadtrat hatte sogar gefordert, ein polizeiliches Führungszeugnis einzuholen, bevor Levine Chefdirigent der Philharmoniker wurde. Doch die Bedenken wurden beiseite gewischt: So ein großer Künstler war, zumindest offiziell, über jeden Verdacht erhaben. 

Der Fall Levine – kein unvermeidliches Schicksal

Die Besetzungscouch sei nun mal so alt wie das Theater, meinte die große Christa Ludwig achselzuckend, als die #MeToo-Debatte aufkam. Da mag sie traurigerweise recht haben. Doch das macht die Besetzungscouch ja weder ehrwürdig noch unantastbar. Fälle wie der von James Levine sind eben kein unvermeidliches Schicksal. Und so stellt seine Lebensgeschichte viele Fragen – an politische Entscheidungsträger, an Orchestervorstände und Musikmanager (es gibt wenig weibliche – und das ist Teil des Problems), an den Musikjournalismus und auch an das Publikum. Die drängendste Frage ist die nach der Macht berühmter Dirigenten und ihrer Kontrolle.

Sendung: "Leporello" am 17. März 2021 ab 16:05 Uhr auf BR-KLASSIK

Radio-Tipp

Anlässlich des Todes von James Levine ändert BR-KLASSIK das Programm der Sendung "Panorama" am 18. März mit Aufnahmen der Münchner Philharmoniker unter der Leitung von James Levine.