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Zwischenruf: Brauchen wir Musikkritiker? Die Buhmänner – wider besseres Können

Die Wellen der Empörung schlugen hoch, als Mitte Oktober eine Musikkritik in der Süddeutschen Zeitung über einige ihrer Ziele hinausschoss. Dieser Text über Igor Levit beschäftigte viele – manche Reaktionen machten dann auch schnell ihrem generellen Unmut über Musikkritik Luft. Musikkritik sei sowieso "überflüssig wie ein Kropf", hieß es da unter anderem. Doch was ist überhaupt Musikkritik? Wozu ist sie da? Kann man sie nicht doch gebrauchen?

Zugabe: Zwischenruf - Brauchen wir Musikkritiker?

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Es ist eines der hartnäckigsten und zähesten Klischees: Kritiker sind Buhmänner, Miesmacher, Berufs-Griesgrame. Neider, die selber nichts draufhaben und andere runtermachen. Verhinderte Künstler. Pseudo-Literaten. Taugenichtse der Kulturszene. Ungemein lästig und völlig überflüssig. Besonders schlimm: die Musikkritiker! Kritikerinnen natürlich ganz genauso. Der Satiriker Georg Kreisler legte dem Berufsstand folgende, manchmal leider treffende Sätze in den Mund: "Es gehört zu meinen Pflichten, Schönes zu vernichten (…) für mich hat Zuhören keinen Sinn, weil ich unmusikalisch bin!"

Eine Geschichte voller Missverständnisse

Musikkritiker aller Generationen – und weniger Kritikerinnen – haben selbst viel zu diesem Bild beigetragen. Das gab es schon im 19. Jahrhundert in Wien mit dem scharfen Denker und manchmal bösen Formulierer Eduard Hanslick, der in Tschaikowskys Violinkonzert stinkende Musik auszumachen glaubte. Richard Wagner karikierte Hanslick mit dem kleinlich-biederen Sixtus Beckmesser in den "Meistersingern". Und tat ihm Unrecht. Wie auch vielen seiner Nachfolger. Die Geschichte der Musikkritik ist die Geschichte ihres Missverständnisses. Und zwar oft von beiden Seiten. Von Lesern, die glauben, Einwände seien stets Miesmacherei. Und von Autoren, die meinen, eine Kritik sei nur dann eine, wenn sie besonders fies ist.

Wenn Musik in Sprache aufgeht

Kaum einer schaut hinter das Wort Kritik. Das würde helfen. Allen. Das Wort hat kein bisschen mit Mäkeln oder Abkanzeln zu tun. Das griechische Verb, von dem das zunächst französische Wort critique abgeleitet wurde, bedeutete vor allem: unterscheiden. Das ist anders und sehr viel spannender. Was Kritiker, diese seltsamen Menschen, eigentlich wollen – oder wollen sollten –, ist: auf den Begriff zu bringen, warum Musikerin A anders klingt als Musiker B. Was sie oder er anders macht. Was einen Klang von einem anderen trennt. Und manchmal dafür Worte zu finden, die Bilder sind – oder sogar selbst Musik. Persönliche Erinnerung: Als junger Zeitungsleser habe ich vor Jahren durch Kritiken so manche Musik überhaupt erst entdeckt. Und die Schönheiten in ihr besonders zu schätzen gelernt durch Sätze etwa von Werner Burkhardt, einst Kritiker der Süddeutschen Zeitung. Über den tragischen Jazzer Chet Baker schrieb der einmal: Dessen sehr dünne, zarte Stimme sei "der Geisterfaden, mit dem der Einsame die Einsamen an sich band". Was für ein Satz! Wenn Musik so in Sprache – und in Erkenntnis – aufgeht, kann das die Freude an ihr entschieden steigern. Überflüssig? Nein! Wir brauchen Kritiker. Aber solche, die unterscheiden können – und durch ihre Worte die Sinne schärfen.

Sendung: "Leporello" am 22. Oktober 2020 ab 16:05 Uhr auf BR-KLASSIK