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Zum Tag des Fehlers Der falsche Ton – Freund oder Feind?

Kein Musiker spricht gern über die Fehler, die einem schon unterlaufen sind. Ein vergeigter Ton? Ein kieksendes Horn? Ein verpatzter Lauf auf dem Klavier? Alle haben das schon mal erlebt: Opernsängerinnen, Instrumentalsolisten, Orchestermusiker, Dirigentinnen, Jazzmusiker. Und doch scheint Fehlerlosigkeit die heilige Kuh der Klassikszene zu sein. Zeit, die "bösen Ausrutscher" mal unter die Lupe zu nehmen.

Bildquelle: BR

Wenn man eine falsche Phrase gesungen hat, entsteht plötzlich eine ganz andere Aufmerksamkeit. Und dann kann ein Fehler zu etwas ganz Tollem werden.
Christiane Karg, Sopranistin

Das Orchester: Sicherer Hafen oder Schlangengrube?

Hilfreich, edel und gut soll sie sein: die klassische Musik. Ohne Ecken und Kanten, leicht konsumierbar und bitte immer auf Höchstlevel. Die Anspruchshaltung des Publikums ist extrem hoch, angestachelt durch die hochglanzpolierten CDs. Die der Musikkritiker sowieso: Mit gemeiner Freude stürzen sie sich immer wieder auf die kleinen Fehler inmitten eines großartigen Konzertes. Nimmt man den eigenen Anspruch von leidenschaftlichen Vollblutmusikern dazu, herrscht ein dreifacher Druck. Für viele Orchestermitglieder ist das der Alltag, erzählt Frank Reinecke vom Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks: "Die Kunst ist heilig. Wir müssen sozusagen als eine Art Messdiener der Kunst die Vollendung in irgendeiner Weise verkörpern, auch wenn wir es überhaupt nicht können", sagt der Kontrabassist. "Wir haben daraus einen irrsinnigen Anspruch an uns selbst." Dieser Anspruch führt mitunter dazu, dass ein ernst zu nehmender Anteil an Orchestermusikern und Orchestermusikerinnen die eigene Angst vor Fehlern mit Betablockern oder Drogen zu betäuben versucht. Hornist Ulrich Haider von den Münchner Philharmonikern sieht daher Unterstützungsbedarf: "In vielen Fällen wäre es gut, wenn therapeutisch gearbeitet wird." Jedoch wird die Problematik bislang gekonnt totgeschwiegen, um nicht am Lack der Klassikszene zu kratzen.

Wir sind alle Experten in Selbstzerfleischung. Das hat kein Ende.
Frank Reinecke, Kontrabassist im Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks

Solisten: Einsame Spitze?

Sieht Fehler gelassen: die Sopranistin Christiane Karg | Bildquelle: Steven Haberland

Gesunde Nervosität ist das eine, lähmende Angst vor Fehlern das andere. Bei letzterer besteht Handlungsbedarf, um die Angst in den Griff zu bekommen. Oboist Albrecht Mayer kennt die Fallen auf dem Weg: "Wenn man sich im Konzert darüber ärgert, dass ein Fehler passiert, dann passiert sofort der nächste. Man lächelt und dann geht es weiter. Aber das ist ein Prozess, den man sich schmerzhaft antrainieren muss." Die gute Nachricht ist, dass man gerade durch die Erfahrung eines Fehlers Gelassenheit entwickeln kann, so wie die Sopranistin Christiane Karg: "Ich bin einmal hingefallen während des Rezitatives und habe beide Schuhe verloren. Ich habe dann meine Schuhe angezogen und danach meine Arie gesungen – so gut wie ich die noch nie gesungen habe." So kann der Fehler als Befreiungsschlag wirken: Druck weg, Stimme frei.

Böcke schießt man bei jedem Konzert. Das gehört einfach dazu.
Albrecht Mayer, Oboist

Die schwierige Definition des Fehlers

Im Duden steht es schwarz auf weiß: "Fehler: etwas, was falsch ist, irrtümliche Entscheidung, Maßnahme; Fehlgriff; schlechte Eigenschaft, Mangel". Doch was falsch ist, irrtümlich, schlecht, mangelhaft – das liegt im Auge des Betrachters. Theo Wehner, emeritierter Professor für Wirtschafts- und Organisationspsychologie und Fehlerforscher definiert den Fehler deshalb als "eine Zielverfehlung." Also liegt die Wahrnehmung dessen, was ein Fehler ist, nicht ausschließlich in einer gesetzten Norm, die es zu erfüllen gilt: Notentext, Aufführungstradition, Erwartung des Publikums. Vielmehr setzt der Musiker selbst den Rahmen dafür, was als Fehler erlebt wird. Wenn das eigene Ziel realistisch gesteckt wird, sinkt die Wahrscheinlichkeit, dass er kommt. Wenn der Fehler aber doch kommt, lohnt es sich hinzuschauen. Denn laut Theo Wehner ist "eine Innovation nicht vorstellbar, ohne dass am Anfang irgendeine Irritation gestanden hat. Entwicklung gibt es nur mit Fehlern. Die Fehler haben eine Tendenz zum Richtigen. Es ist sozusagen ein Ausrutschen auf irgendeiner Fläche in eine bessere Gestalt."

Dirigenten: Psychologen am Pult

Der 93-jährige Dirigent Herbert Blomstedt steht noch immer regelmäßig am Pult. | Bildquelle: © SF/Marco Borrelli Brüllende Tyrannen oder einfühlsame Teamworker: Dirigenten und Dirigentinnen haben auch im Umgang mit Fehlern enorme Macht. Es gibt solche, die einzelne Orchestermitglieder bloßstellen, wenn sie einen Fehler gemacht haben und damit den Grundstein für massive psychische Probleme legen. Und es gibt jene, die in der Probe elegant drüber weghören und später unter vier Augen ein respektvolles Gespräch mit den Musikern führen. Andere schauen auf sich selbst, wie der 93-jährige Dirigent Herbert Blomstedt: "Wenn etwas im Orchester passiert, dann denke ich immer: Was habe ich für einen Fehler gemacht? Das ist das Zeichen von einem echten Künstler, dass er sich seiner eigenen Fehler bewusst ist und versucht weiterzukommen. Man kann einen Fehler ja auch als Sprungbrett nehmen – eine Gelegenheit zum Neuanfang."

Man muss sich bemühen, etwas besonders Schönes zu machen – und nicht nur Fehler zu vermeiden.
Herbert Blomstedt, Dirigent

Es gilt auch, abzuwägen: Was bringt es dem Dirigenten, wenn er während eines Konzertes einen Musiker, der gerade danebenlag, mit bösen Blicken straft? Psychologisch wertvoller könnte der Weg sein, den Dirigent Franz Welser-Möst einschlägt: "Wenn jemand einen Fehler macht, tue ich so, als habe ich es nicht gehört. Als Dirigent kann man da psychologisch einfach helfen, um nicht Angst und Panik zu verbreiten. Man kann es ohnehin nicht mehr rückgängig machen."

Früh übt sich, wer den Fehler meistern will

Schwitzende Hände, zitternde Knie: Meist wird die Angst vor dem Fehler den Musikern schon die Wiege gelegt – von ehrgeizigen Eltern oder strengen Lehrerinnen, die den Fehler nicht als willkommenen Teil des Lernprozesses betrachten, sondern ihn als Schreckgespenst an die Wand malen. Dabei wird durch Fehler sogenanntes negatives Wissen aufgebaut. Wir erfahren, wie etwas nicht geht und lernen dadurch gleichzeitig, wie etwas funktioniert. Begegnen wir dem Fehler also freundschaftlich: offen, interessiert und mit kindlicher Entdeckerlust.

Sendung: "Piazza" am 15. August 2020 ab 8:05 Uhr auf BR-KLASSIK