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Der Klangforscher und Komponist Alvin Lucier ist tot Der mit den Hirnwellen spielte

Er brachte die eigenen Hirnwellen zum Klingen: Alvin Lucier hat mit seinen Klangexperimenten die Musikgeschichte des 20. Jahrhunderts mitgeprägt. Sein Name gehört in eine Reihe mit Größen wie John Cage oder Karlheinz Stockhausen. Nun ist der amerikanische Komponist und Klangforscher im Alter von 90 Jahren gestorben.

Bildquelle: picture alliance/AP Images | Markus Schreiber

Ob er sich so fühle wie das One-Hit-Wonder der Neuen Musik, das hat die taz Alvin Lucier vor einigen Jahren gefragt. Provokant, aber nicht ganz falsch. "Manchmal", gab der Komponist damals zur Antwort. Immerhin wurde sein Name tatsächlich vor allem mit einem Werk assoziiert. Gemeint ist "I am sitting in a room" aus dem Jahr 1969. Das Setting: Lucier nimmt sich erst selbst via Tonband auf und spielt es dann wieder und wieder ab, während er die Aufzeichnung erneut aufnimmt. Der Effekt: Nach und nach werden die Resonanzen des Raumes so dominant, dass man den gesprochenen Text nicht mehr versteht. Paradox gesagt: Man hört den Raum besser als das, was in ihm klingt.

Ein One-Hit-Wonder der Neuen Musik?

Mit Resonanzen hatte er es bereits als Jugendlicher. Schon als Schlagzeuger seiner Highschoolband habe er den Moment geliebt, wenn die Kapelle vor Footballspielen durch den Stadiontunnel hinaus aufs Spielfeld gelaufen sei. "Das Echo war herrlich, wie es sich räumlich veränderte", erzählte Alvin Lucier im selben Interview.

In Europa entdeckt Lucier die Avantgarde

In den 40er-Jahren war das, in Nashua, New Hampshire. Dort, an der Ostküste der USA, wurde Lucier 1931 in eine musikalische Familie geboren. Später studierte er Komposition und Musiktheorie in Yale und an der Brandeis University. Aaron Copland gehörte zu seinen Lehrern. Der dominante Stil damals: Neoklassizismus. Und vielleicht wäre Lucier darauf hängengeblieben, hätte ihn nicht ein Fullbright Stipendium nach Rom verschlagen, wo er in den 50er-Jahren mit der europäischen Avantgardeszene in Berührung kam: Nono, Boulez, Stockhausen.

Musizieren mit den eigenen Hirnwellen

Nachdem er Performances von John Cage gesehen hatte, war er für die traditionelle Konzertmusik jedenfalls ganz verloren. Aus dem Komponisten wurde ein Klangforscher. In den 60er-Jahren entstanden einige Werke, die noch heute zu den Meilensteinen der experimentellen Musik gehören. Neben "I am sitting in a room" gilt das vor allem für seine "Music for Solo Performer" (1965). Ein Stück, in dem Lucier mit den eigenen Hirnwellen musiziert. Via Elektroden angeschlossen an ein Drumset. Eine Verbindung von Klang und Wissenschaft: Sound-Sience-Fiction.

Bis zuletzt mit seinen Experimentalwerken auf Tour

2007 erhielt Lucier die Ehrendoktorwürde der Universität Plymouth. 2017 hat er an der documenta 14 in Kassel teilgenommen. Seine Schlüsselwerke hat Alvin Lucier bis zuletzt immer wieder aufgeführt, beispielsweise im Rahmen der Berliner MaerzMusik. Einmal sogar am MIT, dem renommierten Massachusetts Institute of Technology. "Hinterher kam ein Junge zu mir und sagte: 'Das war cool!' Zwei Wochen später schickte er mir seine Version des Stücks, die hatte er am Computer gemacht. Ich dachte mir: Wenn ich 86 Jahre alt bin und ein Zehnjähriger meine Musik mag, ist das doch mal ein Erfolg."

Nach Meldungen aus dem Familienkreis ist der große Klangkünstler am 1. Dezember an den Folgen eines Sturzes verstorben.

Sendung: "Leporello" am 2. Dezember 2021 ab 6:05 Uhr auf BR-KLASSIK