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Buch – Andrea Grills "Cherubino" Notenlernen und Ultraschall

Mozarts Cherubino aus der "Hochzeit des Figaro" ist eine der berühmtesten Opernrollen für Mezzosoporanistinnen: Der junge Page, voller Liebe, der das Leben und die Enttäuschungen noch vor sich hat. Angelika Kirchschlager zum Beispiel hat ihn oft gesungen. Und ihr Wissen an eine österreichische Schriftstellerin weitergegeben, die Cherubino zum Titel ihres neuen Romans gemacht hat – eine Geschichte über eine Frau inmitten lauter emotionaler Zwickmühlen.

Buchcover Andrea Grill: "Cherubino" | Bildquelle: Paul Zsolnay Verlag, Wien

Bildquelle: Paul Zsolnay Verlag, Wien

Der Buch-Tipp zum Anhören

Um was geht es? Iris ist 39, Sängerin, Mezzosopran und gerade vor dem Durchbruch zur internationalen Karriere. Ihr Debüt an der MET in New York steht bevor: der Cherubino in Mozarts Figaro. Und im Sommer winkt Salzburg, bei den Festspielen soll sie die Hauptrolle in Nicholas Maws zeitgenössischer Oper "Sophie's Choice" singen. Gerade war sie dafür beim Vorsingen in München, nur Humperdincks Hänsel wollte man von ihr hören, nach wenigen Takten hat sie alle überzeugt und die neue Rolle im Sack.

Realistischer Blick hinter die Kulissen

Iris ist schwanger. Mit dem positiven Teststreifen beginnt der Roman von Andrea Grill, der uns mitnimmt auf die Opernbühnen von New York, Wien und Salzburg. Der uns ziemlich realistisch hinter die Kulissen des Klassikbetriebs schauen lässt, in Regie, Maske und Kostüm. Der uns eine Sängerin in ihrer ganzen Einsamkeit der Vorbereitung und des Reisens, in ihrer kleinen privaten und doch so großen öffentlichen Welt zeigt. Und eine ganz normale Frau, die mitten in ihrem selbstbestimmten Chaos schwanger wird. Zur Unzeit: Geburtstermin und Salzburg-Premiere fallen auf denselben Tag. Ein "No Go" für die Karriere.

Von Liebe sprach sie nie, egal, wie sehr man sie provozierte oder darum bat. Liebe, sagte sie, gibt's nur in der Oper oder in Gedichten.
Zitat aus dem Buch

Pflichtbewusst und lebenslustig

Andrea Grill schafft mit der Mezzosopranistin Iris eine moderne, sehr reale Frau: Nachdenklich, aber auch unbeschwert. Pflichtbewusst, aber auch lebenslustig. Iris liebt Ludwig, einen verheirateten Politiker. Die Affäre berührt sie beide mehr als sie wollen, trotzdem sind die Termine rar und immer abgezirkelt. Statt des Namens notiert sie Intervalle im Kalender: eine kleine Terz, wenn nur wenig Zeit ist. Eine verminderte Terz, wenn sie sich nur draußen treffen, ohne Raum für Privates. Ob sie Sergio liebt, weiß Iris nicht. Der Tenor ist offiziell ihr Lebensgefährte, steht ihr bedingungslos bei, liebt den Embryo vom ersten Tag an und trägt sie sogar dann noch auf Händen, als sie sich mitten in der Schwangerschaft von ihm trennt. Sinnbild für ihr emotionales Chaos ist Mozarts Oper "Figaros Hochzeit": "Jeder stört fortwährend jeden bei allem – ein mögliches Resümee von 'Le nozze di Figaro'. Eine endlose Beziehungsgeschichte, jede neu auftretende Figur erhöht die Verwirrung…"

Kurz und bündig

Dieses Buch wird lieben, …
… wer charakterstarke, mutige und dennoch suchende Frauenfiguren mag.

Dieses Buch ist ein Lesegenuss, weil …
… Andrea Grill uns wunderbar lakonisch an Iris' Leben teilhaben lässt. Sie wirkt wie die beste Freundin, man ist ihr nah und trotzdem nie peinlich berührt.

Dieses Buch liest man am besten …
… in einem Rutsch und mit einer Opernkarte für "Figaros Hochzeit" in petto.

Immer wieder Schreckmomente

New York feiert sie als Star einer umjubelten Produktion, während die Ärzte ihr raten, sich zu schonen. Zwischenblutungen, Stiche im Unterleib, immer wieder Schreckmomente und die werdenden Väter – Iris weiß nichts Genaues und will es nicht wissen – meilenweit entfernt.

Auseinandersetzung mit extremen Rollen

Neun Monate begleiten wir eine charmante, kluge, selbstbewusste und doch oft unsichere, suchende Frau durch ihr Leben, vom positiven Test bis zur Geburt. Und parallel dazu ihre Karriere. Ihre Gedanken und Sorgen, ihre Zwiegespräche mit dem Kind. Ihre Auseinandersetzung mit extremen Rollen, vor allem der Salzburger Sophie, die sie sich hochschwanger erkämpft: "Andererseits Sophie Zawistowski, eine Frau, die im KZ Auschwitz alles verloren hat, außer das Leben. Im Jetzt der Oper will sie danach greifen, tappt aber überall in den Tod."

Mutig den eigenen Weg gehen

Dank Andrea Grills lakonischer Sprache rücken wir Iris sehr nah auf die Pelle, ohne dass es je peinlich oder voyeuristisch wird. Wir sind beim Notenlernen dabei und beim Ultraschall, beides ziemlich selbstverständlich und ohne Scham. Was sich Iris fragt, über was sie rätselt, kommt uns bekannt vor und erwischt uns darum umso direkter; es sind die grundsätzlichen Fragen über das Leben und die Liebe. Und die gibt's, da hat Iris unrecht, eben doch auch im echten Leben. Ein modernes Buch, ein hervorragend recherchiertes Buch obendrein, ein Buch für alle, die mutig den eigenen Weg gehen.

Infos zum Buch

Andrea Grill:
"Cherubino"
Paul Zsolnay Verlag, Wien
317 Seiten
Hardcover
Preis: €23,00

(Das Buch steht auf der Long List des Deutschen Buchpreises 2019.)

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