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Buch – Ein Roman des Dirigenten Omer Meir Wellber "Die vier Ohnmachten des Chaim Birkner"

Ein Dirigent braucht viele Eigenschaften. Vielleicht schreibt der eine oder andere auch mal ein cleveres Fachbuch über Musik. Aber einen Roman? Der Dirigent Omer Meir Wellber hat tatsächlich einen solchen geschrieben: "Die vier Ohnmachten des Chaim Birkner". Ungefähr zehn Jahre geisterte die Idee in seinem Kopf herum, jetzt ist das Buch auf Deutsch erschienen. Und es geht nicht um Musik, sondern um einen Mann namens Chaim, um die Geschichte Israels und die Geschichten emigrierter Juden. Wellbers Held ist kein Historiker, kein Gebeutelter, sondern ein 108 Jahre alter Lügenbold.

Buch-Cover: "Die vier Ohnmachten des Chaim Birkner" von Omer Meir Wellber | Bildquelle: Berlin-Verlag

Bildquelle: Berlin-Verlag

Chaim Birkner wird zwar Vater, weiß aber mit seinem Kind nichts anzufangen. Die Tochter wächst darum ohne ihn im Kibbuz auf. Und sowieso, Chaim hat gar kein Gespür für das, was Familienleben bedeutet. Wie sollte er auch? Er ist einer dieser Entwurzelten, kommt aus Ungarn, Jahrgang 1930 und wurde Holocaust-Überlebender, weil sein Vater ein paar Nazi-Offiziere geschmiert hat.

Blick aus der Zukunft

Es ist ein Buch, das in der Zukunft spielt: Wenn man nachrechnet, kommt man auf das Jahr 2038, was Wellber hie und da auch durch winzige Details wie Elektroautos illustriert. In der Figur des Chaim spiegelt Wellber die komplexe Geschichte Israels, die auf immer und ewig mit der deutschen Geschichte verschweißt ist, weshalb das Buch auch als erstes in deutscher Sprache erscheint.

Man kann auf einem Zirkus von Traumata keinen Staat errichten.
Zitat aus dem Buch

Chaim ist einer dieser Traumatisierten. Einer von denen, die zappeln wie ein Fisch im Netz des gelobten Landes, die ihre europäischen Seen und Wälder verloren haben und stattdessen Hitze und Wüste aushalten müssen.

Verzicht auf die Tränendrüse

Wellber macht das aber nie explizit zum Thema oder drückt gar auf die Tränendrüse. Es sind die vielen Kleinigkeiten und Assoziationen, die den Leser dieses Leben ohne Wurzeln spüren lassen. Selbst im Nachnamen des Helden steckt die Haltlosigkeit: "Birkner" ruft das Bild einer Birke wach – eines Baumes, der bei jedem leisen Windhauch zittert und der extrem flach verwurzelt ist. "Was tue ich hier?", fragt sich Birkner. "Wieso bin ich ein Mann von 37 Jahren, der unter einer fiktiven Identität als Sekretärin arbeitet und eigentlich Ehemann einer toten Frau und Vater einer Tochter ist, die er kaum kennt?"

Dem Rabbiner die Frau ausgespannt

Eines Tages aber kann er sich nicht mehr drücken vor dem Leben. Seine Tochter will einen religiösen Juden heiraten und muss dafür eine tadellose jüdische Ahnenliste vorweisen. Also erzwingt Tochter Sharon vom Vater, dass der seine Wurzeln ausbuddelt. Und da kommt so manches heraus: Dass eine seiner Großmütter keine Jüdin war, ist zwar ein lästiger Wermutstropfen, aber vergleichsweise harmlos. Die andere Geschichte hingegen raubt Chaim den Atem. Darin geht es Ursprung seines Lebens, eine Geschichte, die ihm ein Bekannter erzählt: "Ihr Vater hat die Frau des Rabbiners entführt. Also Rachel, ihre Mutter! Sie waren verliebt. Wissen Sie, als die beiden durchbrannten, war sie im zweiten Monat." Dazu gehört eine ordentliche Portion Chuzpe – dem Rabbiner die Frau auszuspannen. Dieser Geschichte geht Chaim dann gemeinsam mit der Tochter in Ungarn auf den Grund.

Ping-Pong auf verschiedenen Erzählebenen

Omer Meir Wellber | Bildquelle: Bayerischer Rundfunk Der Autor Omer Meir Wellber | Bildquelle: Bayerischer Rundfunk Omer Meir Wellber erzählt uns das Leben von Chaim Birkner nicht chronologisch. Eher assoziativ, in Dialogen, als Dauer-Brainstorming. Kleinen Stichwörtern wie "verliebt" gibt Wellber eine Bombenkraft, so dass sie einen mitten im Satz aus Chaims Midlife-Crisis in dessen Kindheit auf dem Apfelbaum katapultieren. Zugegeben, es ist nicht immer ganz leicht, diesen Mega-Sprüngen in Chaims Hirn zu folgen, manchmal fühlt man sich schon selbst einer Ohnmacht nahe! Andererseits schärft das Ping-Pong auf verschiedenen Erzählebenen die Aufmerksamkeit. Gut, das man in einem Buch problemlos ein paar Zeilen im Text zurückgehen kann – das empfiehlt sich hier gelegentlich zur Klärung der Erzählebene. Und dadurch wird man selbst zu einer Art "Chaim", der ja, wie der Leser auch, zwischen den Ereignissen seines Lebens vor und zurückspringt.

Wie ein Musikstück

Ein enorm anspielungsreiches, philosophisches, atemloses, momenthaftes Buch, das eine ähnliche Sogwirkung entfaltet wie ein berauschendes Musikstück. Nur eine Spur schelmischer.

Infos zum Buch

Omer Meir Wellber:
"Die vier Ohnmachten des Chaim Birkner"
Berlin Verlag, Berlin
203 Seiten
Hardcover
Preis: €22,00

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