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Buch - Julian Caskel, Hartmut Hein Handbuch Dirigenten

"Was macht die ganz besondere Klangsprache eines Dirigenten aus? Warum setzen manche Aufnahmen Maßstäbe in der Interpretationsgeschichte eines Werkes?" Diese Fragen finden sich auf der Rückseite eines neuen Dirigenten-Lexikons und machen neugierig. Vielleicht aber hat mancher Musikfreund auch einfach nur Lust, nach einem besonderen Konzerterlebnis mehr über den Dirigenten zu erfahren, als im Programmheft steht. Das "Handbuch Dirigenten" porträtiert 250 Pultlegenden aus über hundert Jahren.

Buch-Cover: Handuch Dirigenten | Bildquelle: Bärenreiter / Metzler

Bildquelle: Bärenreiter / Metzler

Der Buch-Tipp zum Nachhören!

"Seine Hoffnung, sich von der Politik gänzlich fernhalten zu können, stellte sich sehr rasch als Illusion heraus, und das Lavieren zwischen Anpassung und Verweigerung beeinträchtigte schließlich auch die künstlerische Tätigkeit."

Der Zwiespalt, in dem sich Wilhelm Furtwängler als Exponent des Nazi-Regimes befand, wird im "Handbuch Dirigenten" prägnant herausgearbeitet. Ungemein differenziert beleuchtet der Autor Hans-Joachim Hinrichsen Furtwänglers Interpretationsästhetik und räumt mit lieb gewonnenen Klischees auf. Überhaupt sind die Pultlegenden der Vergangenheit wie Toscanini, Nikisch, Stokowski, Mengelberg oder Bruno Walter in dem neuen Nachschlagewerk profund dargestellt. Dasselbe gilt für Altmeister wie Boulez oder Harnoncourt.

Aussagekräftige Daten

Nach einem Einleitungsteil mit Essays rund um den Dirigentenberuf folgen die 250 Porträts. Die Pioniere der historischen Aufführungspraxis sind umfassend dokumentiert, auch Dirigentinnen sind vertreten. Dennoch bleibt die Auswahl fragwürdig: Die junge Generation um Ticciati, Bringuier, Heras-Casado oder Currentzis fehlt ebenso wie Sándor Végh oder Marcello Viotti – dafür wird Enoch zu Guttenberg oder Helmut Müller-Brühl Platz eingeräumt… Und Kirill Petrenko, der Dirigent der Stunde, wird arg summarisch abgehandelt. Wertvoll machen das Handbuch die vorangestellten biographischen Daten zu jedem Dirigenten, die aussagekräftig und auf dem neuesten Stand sind. Dann werden die Künstler in ihrer Persönlichkeit und anhand charakteristischer CD-Produktionen vorgestellt. In Esa-Pekka Salonens Diskographie zum Beispiel ist Strawinskys "Sacre" zentral:

"Salonen zeichnet die Partitur mit der Schärfe eines Skalpells nach, seine dennoch niemals rein chirurgischen Pointierungen der klanglichen wie der rhythmischen Formmittel bewirken eine geradezu muskulöse Abbildung des musikalischen Geflechts."

Viel Insider-Wissen

Mangels direkter Begegnungen mit den Porträtierten gerät das "Handbuch Dirigenten" allerdings streckenweise in Gefahr, zu einem – fraglos kompetenten – CD-Führer zu werden. Hier wird im Fach-Jargon viel Insider-Wissen verbreitet, das sich nicht so ohne weiteres mitteilt, wenn man die beschriebene Musik nicht im Ohr hat. Manchmal stolpert man auch über kritische Töne wie im Fall des gerade verstorbenen Kurt Masur, die zumindest im Kontext eines Lexikons unangebracht erscheinen. Und vereinzelt kommt es sogar zu Fehlurteilen wie bei Bernard Haitink:

"Die 'Wahl des Halls' als neue Residenz, dessen kontrollierbarer Einsatz die volltönende Verschmelzung der Klangregister ermöglicht, tritt besonders hervor im Deutschen Requiem: Alles Fleisch wird hier zu Glanz. Haitink präsentiert sich in diesen Aufnahmen vordergründig als der berechenbare Dirigent des bürgerlichen Wohnzimmers."

Das hat der große Haitink nicht verdient … Nicht nur dieser Artikel leidet unter den spitzfindigen Theorien und prätenziösen Formulierungen von Julian Caskel, einem der beiden Herausgeber, von dem leider auch der Löwenanteil der Porträts stammt. Caskels gesucht originelle Rezeptur, um das Phänomen Thielemann zu fassen, kann man pointiert – oder nur flapsig finden:

"Christian Thielemann verhält sich zum Dirigieren wie die Großmutter zum Apfelkuchen. Lange Zeit begleitet ihn der Verdacht, dass er das Altbewährte allzu einseitig gegen eine aktualisierende Ästhetik ausspielt, indem er darauf verweist, dass Kunst nicht immer experimentell oder kritisch sein müsse. Doch betören bei ihm unzweifelhaft einige 'Klassiker der Küche' mit einem Duft, wie er sonst höchstens in Aufnahmen 'von anno dazumal' zu erleben ist."

Triftige Einschätzungen

Davon abgesehen bietet das "Handbuch Dirigenten" eine Fülle gesicherter Fakten und triftiger Einschätzungen, die von einem namhaften Autoren-Team in jahrelanger Fleißarbeit zusammengetragen wurden. Nicht nur Musikjournalisten, auch interessierte Konzertbesucher finden hier viel Wissenswertes und unzählige Anregungen. Und schließlich ist das Buch in seiner lexikalischen Form ja auch ein Novum.

"Handbuch Dirigenten" – 250 Porträts

Julian Caskel, Hartmut Hein (Hrsg.)
gebunden, 421 Seiten
39,95 Euro     
erschienen bei Bärenreiter / Metzler

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