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Buch - Anna Enquist "Streichquartett"

Anna Enquist zählt zu den bedeutendsten niederländischen Gegenwartsautoren. Musikmachen als Lebensinhalt - das stellt die Pianistin und Psychoanalytikerin in den Mittelpunkt ihres neuen Romans "Streichquartett". Ein Buch nicht nur für Musiker ...

Buch-Cover: Anna Enquist - "Streichquartett" | Bildquelle: Luchterhand

Bildquelle: Luchterhand

"Sie fangen immer mit Bach an. 'Kunst der Fuge'. Alle Stimmen gleichwertig, wenig Unterschied in der Dynamik, kein übertriebener Ausdruck. Sorgfältig und sauber muss es sein. Einer nach dem anderen setzt ein, das Stimmengeflecht wird zusehends verschlagener. Man muss sich zurücknehmen, wenn ein neuer Einsatz kommt, das Thema hat Vorrang. … Die Bratsche gerät aus dem Takt. Neuer Anlauf. Die zweite Geige ist zu laut und übertönt den Einsatz der ersten. Das Cello hat Probleme mit der Intonation und nimmt den anderen Instrumenten dadurch ihren Glanz. Wenn der Bass nicht sauber ist, klingt nichts mehr gut. Es ist nicht ihr Tag."

Sie fangen immer mit Bach an.

Seit Jahren treffen sich vier Amsterdamer Freunde regelmäßig auf einem Hausboot zum gemeinsamen Musizieren: Die Ärztin Carolien spielt Cello, ihr Mann Jochem, ein Geigenbauer, Bratsche, die Krankenschwester Heleen und Hugo, der Kulturmanager, spielen die Geigen. Hugo ist der Besitzer des Hausbootes. Neben diesen Vieren gibt es noch einen weiteren Protagonisten: den emeritierten Celloprofessor Reinier. Anhand dieser fünf komplexen Charaktere spürt Anna Enquist den sehr unterschiedlichen Motivationen nach, aus denen Menschen Musik machen. Welche Rolle sie im Leben eines jeden einzelnen spielen soll oder kann. Und sie hinterfragt dabei immer wieder: Ist Musik für eine Gesellschaft wichtig, wird sie gebraucht und gefördert? Konkret macht sie das am Beispiel der Niederlande fest. Kürzungen der Kultursubventionen und im Gesundheitswesen insbesondere die Altersversorgung, stehen immer wieder im Mittelpunkt.

Die fünf Protagonisten diskutieren soziale und kulturpolitische Problem. Auch die Frage, ob Musik alle Grenzen überwinden kann? Carolien und Jochem haben den Tod ihrer beiden kleinen Söhne zu verarbeiten. Diese sind bei einem Schulbusunfall ums Leben gekommenen. Die eher hausbackene und etwas naive Heleen gilt als perfekte zweite Geige, denn sie hat ein gutes Gehör und ist agil. Neben der Musik gibt es für sie jedoch andere Aktivitäten, von denen eine den Hobbymusikern am Ende zum Verhängnis wird. Mozarts Dissonanzenquartett spielt hierbei eine zentrale Rolle. Wäre da noch Hugo, Heleens Cousin, der um den Erhalt des kommunalen Musikzentrums kämpft. Ihn wiederum verbindet mit Carolien ein gemeinsames Musikstudium bei Reinier. Carolien hat sich beruflich gegen die Musik und für die Medizin entschieden, Hugo schlägt sich anstelle des professionellen Musizierens mit Bürokratie und der Werteinschätzung von Musik-und Kulturevents herum. Und der achtzigjährige Reinier lebt gedanklich in seiner Vergangenheit als aktiver Musiker. Zudem sein ständiges Thema: kann er als einst weltweit renommierten Cellist die Hilfe eines kleinen arabischen Jungen beim Einkaufen annehmen? Was droht ihm, wenn er aus Dankbarkeit den kleinen Finger reicht?

"Sie haben eine Abmachung getroffen. Es erschreckte Reinier, wie leicht er Argwohn und Misstrauen beiseiteschob. Der Junge hat etwas Entwaffnendes: Dieser Lauterkeit, diesem aufrichtigen Wunsch zu helfen, konnte er nicht widerstehen. Er hat mich mit seinem Interesse für Musik eingewickelt, denkt Renier."

Es geht hier um die Sinnsuche dieser fünf Figuren mit ihren für sie teils unerträglichen Alltagsproblemen. Kann musizieren da ein Gegenentwurf sein? Fesselnd und analytisch durchdacht schreibt Anna Enquist auf einen allerdings abstrusen, fast albernen Showdown hin, der so nicht nötig gewesen wäre. Dennoch faszinierend die Dynamik ihres psychologisch angelegten Romans und ihr feinsinniges Gespür, in Bezug auf Beschreibung und Analyse der Musik.

"Streichquartett" von Anna Enquist

288 Seiten
erschienen Luchterhand Verlag, München 2015

Preis: 19,99 Euro



Über die Autorin

Anna Enquist wurde 1945 in Amsterdam geboren, wo sie heute wieder lebt. Sie wuchs in der niederländischen Stadt Delft auf, studierte Klavier am Königlichen Konservatorium in Den Haag, anschließend Klinische Psychologie in Leiden und arbeitet als Psychoanalytikerin. Seit 1991 veröffentlicht sie Gedichte, Romane und Erzählungen. Neben Margriet de Moor und Harry Mulisch zählt sie zu den bedeutendsten niederländischen Gegenwartsautoren. Ihre Werke wurden in 15 Sprachen übersetzt und mit zahlreichen internationalen Literaturpreisen ausgezeichnet.

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