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Buch - Volker Tarnow Sibelius

Seine Musik polarisiert, und bis heute sind nicht alle seiner sieben Symphonien wirklich heimisch in den Konzertsälen geworden. Theodor W. Adorno ließ sich angesichts der Symphonik von Jean Sibelius zu dem Bonmot hinreißen, Symphonien seien "keine tausend Seen: auch wenn sie tausend Löcher" hätten. Und der Dirigent René Leibowitz erklärte den Finnen kurzerhand zum "schlechtesten Komponisten der Welt".

Cover: Volker Tarnow - Sibelius | Bildquelle: HENSCHEL Bärenreiter

Bildquelle: HENSCHEL Bärenreiter

Der Buchtipp zum Nachhören!

Im angelsächsischen Sprachraum sah man das völlig anders, Cecil Gray etwa, einer der ersten Sibelius-Biographen, verstieg sich zu der Behauptung, er sei der erste Komponist, der der symphonischen Gattung seit Beethoven etwas Bedeutendes hinzugefügt habe. Weiter können die Einschätzungen kaum auseinanderliegen.

Als Mensch nicht unproblematisch

Volker Tarnow neigt in seiner neuen Sibelius-Biographie nicht zu kritikloser Hagiographie, jedenfalls, was den Menschen Sibelius angeht. Den zeichnet Tarnow als rätselhaften, hochgradig problematischen, lange Zeit von schwerem Alkoholismus gezeichneten Charakter, schwankend zwischen Depression und Arroganz, übergroßem Ego und heftigen Selbstzweifeln, gnadenlosem Egoismus und entsetzlicher Mimosenhaftigkeit. Ein liebevoller Familienvater war Sibelius für Tarnow gewiss nicht, ein guter Ehemann ebenso wenig. Nein, dem Menschen Jean Sibelius begegnet sein Biograph mit wenig Sympathie, wahrscheinlich nicht zu Unrecht.

Knapp, aber plastisch geschrieben

Umso großartiger findet Volker Tarnow die Musik des Finnen. Diese zuweilen übergroße Bewunderung tut er ebenso apodiktisch kund, wie er die skandinavischen Zeitgenossen des verehrten Meisters inklusive des nicht ganz unbedeutenden Carl Nielsen konsequent ins dritte und vierte Glied verweist. Neben dem Lichterdom Jean Sibelius bleibt bei Tarnow musikalisch in ganz Skandinavien fast kein Stein auf dem anderen. Das liest sich durchaus vergnüglich, denn Tarnow schreibt glänzend und pointiert. Und er kennt sich wirklich aus in der skandinavischen Musik – und nicht nur in dieser. Dennoch wirkt das Ganze auf Dauer leicht ermüdend, zumal man sicher nicht jeder seiner Einschätzungen rückhaltlos folgen muss. Dass etwa Sibelius‘ fünfte Symphonie nicht nur seine bedeutendste, sondern die – neben Mahlers Neunter – größte Sinfonie des 20.Jahrhunderts ist, dürfte ein nicht leicht objektivierbarer Befund sein; auf dem knappen, Tarnow zur Verfügung stehenden Raum ist dies gewiss nicht zu leisten. An solcher Objektivierung freilich ist ihm in seinen ansonsten überaus lesenswerten, notwendig knappen, aber plastischen Werkbeschreibungen ohnehin nicht unbedingt gelegen. So bleibt vieles bloße Behauptung, ohne analytisch untermauert zu werden.

Zentrale Stimme europäischer Symphonik

Was Tarnow überzeugend gelingt ist, Sibelius aus der Ecke des kompositorischen Hinterwäldlers, des nordischen Mystagogen und raunenden Nationalromantikers heraus zu holen, in die ihn zumal die deutsche Musikwissenschaft jahrzehntelang bedenkenlos gestellt hat. Er ordnet ihn als eine zentrale – für ihn die zentrale – Stimme vor allem der symphonischen Literatur in die europäische Musiklandschaft seiner Epoche ein. Das ist kein kleines Verdienst, auch wenn Tarnow mit dieser Richtigstellung nicht der Erste ist. Eine lesenswerte und gut lesbare Hinführung zu Jean Sibelius bleibt sein Buch deshalb allemal, gerade für den, der wenig über diesen rätselhaften großen Musiker weiß. Doch eine Spur mehr an kritischer Distanz zum kompositorischen Werk hätte dem Buch gut getan. Sibelius ist eine so bedeutende Erscheinung, dass er das problemlos ausgehalten hätte.

Volker Tarnow: Sibelius

288 Seiten
24,95 Euro
erschienen im Verlag HENSCHEL Bärenreiter

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