BR-KLASSIK

Inhalt

Album der Woche – René Jacobs dirigiert Beethoven Missa solemnis

Für Theodor W. Adorno war Beethovens Missa solemnis ein "Verfremdetes Hauptwerk", es bleibe "rätselhaft-unverständlich". Vor so manches Rätsel stellt die Missa solemnis das Publikum ohne Zweifel – und die Ausführenden erst recht. Denn die treibt Beethoven immer wieder in Grenzbereiche des Machbaren. Doch ganz so unverständlich ist Beethovens Missa dann auch wieder nicht. Vielleicht wäre auch Adorno zu einer anderen Einschätzung gekommen, hätte er das Werk einmal in einer Interpretation wie jetzt in derjenigen unter der Leitung von René Jacobs hören können.

CD-Cover: René Jacobs dirigiert Beethovens Missa solemnis | Bildquelle: harmonia mundi

Bildquelle: harmonia mundi

Der CD-Tipp zum Anhören

René Jacobs hat sich tief in den von diesem Meisterwerk aufgerissenen Deutungshorizont vergraben. Beethovens sehr persönliche Gläubigkeit, sein durchaus individueller Katholizismus, sein Verständnis von und sein Umgang mit den im lateinischen Credo formulierten Dogmen, die wie in nur wenigen seiner Werke radikalen, ja schreienden Kontraste in Dynamik und Tempo, für all das und vieles mehr findet Jacobs' Neuaufnahme ungemein schlüssige Lösungen. Und die sind nicht nur in einem klugen Gespräch im Booklet nachzulesen, sondern – was viel wichtiger ist – auch in der klingenden Umsetzung zu erleben.

Kurz und bündig

Dieses Album wird jedem mehr als gefallen, dem …
… grandiose Chormusik ein echtes Anliegen ist.

Dieses Album lohnt sich, weil …
… hier ein Hauptwerk Ludwig van Beethovens in insgesamt exzellenter Deutung zu erleben ist.

Bei diesem Album kann man gut darüber nachdenken, ob …
… sich richtig große Musik überhaupt ohne einen unerfüllten Rest aufführen lässt – und ob das nicht gut so ist.

Ein unerfüllter Rest

Nicht, dass Beethovens Missa plötzlich leicht verdaulich würde oder dass selbst dem fantastischen RIAS-Kammerchor Berlin wie den vier ausgezeichneten Solisten nicht die unfassbare Anstrengung anzuhören wäre, die das Stück verlangt. Glatt geht die Missa solemnis nicht auf, darf das auch nicht. Immer wieder bleibt auch in dieser glänzenden Interpretation ein unerfüllter, vielleicht unerfüllbarer Rest, der das Stück auf erst recht faszinierende Weise ins Reich der Utopie verweist. Es gibt diese Werke, mit denen wir nie zu Ende sein werden. René Jacobs liefert eine fast perfekte Deutung, in der der von Beethoven wohl initiierte utopische Charakter immer mitschwingt.

Schneidendes Violinsolo

Bleibt zu erwähnen, wie vollendet das Freiburger Barockorchester musiziert. Kein Wermutstropfen also? Das Benedictus ist ein Kernmoment der Missa, Jacobs selbst spricht von Musik, die aus einer "höheren, heilenden Welt" komme. Recht hat er. Um sich von dem bei ihm schneidenden Violinsolo in höhere Welten tragen zu lassen, muss man schon ein kompromissloser Verfechter der historisch informierten Aufführungspraxis sein. Ein Königreich für einen Hauch Vibrato. Doch was sind schon fünf von 72 Minuten ansonsten hinreißender Musik.

Infos zur CD

Ludwig van Beethoven:
Missa Solemnis

Polina Pastirchak (Sopran)
Sophie Harmsen (Mezzosopran)
Steve Davislim (Tenor)
Johannes Weisser (Bariton)
RIAS Kammerchor
Freiburger Barockorchester
Leitung: René Jacobs

Label:harmonia mundi

Sendung: "Piazza" am 20. Februar 2021 um 08:05 Uhr auf BR-KLASSIK

    AV-Player