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Album der Woche – Peter Hörr und Liese Klahn Beethovens sämtliche Cellosonaten

Sie gehört zu den erstaunlichsten Frauen in Beethovens Umfeld: Nannette Streicher, geborene Stein. Ein Multitalent: Schon mit sieben Jahren trat sie in ihrer Heimatstadt Augsburg als Virtuosin auf. Sie sang, komponierte, veranstaltete Konzerte – und war vor allem eine erfolgreiche Unternehmerin. Schon ihr Vater Johann Andreas Stein war ein bedeutender Klavierbauer. Von ihm lernte sie das Klavierbauerhandwerk. Als er starb, übernahm Nannette, sein sechstes Kind, die väterliche Werkstatt. Und brachte sie zu großem Ruhm.

Bildquelle: ars vobiscum

Die CD-Empfehlung zum Anhören

Mit ihren Klavieren belieferte sie Johann Wolfgang von Goethe ebenso wie Ludwig van Beethoven. Der war ganz begeistert von Nannette Streichers Flügeln. Auf ihren Instrumenten, schrieb Beethoven, könne man "auch singen, sobald man nur fühlen kann". Auf dem Klavier singen – das ist keine Kleinigkeit. Denn der Klavierton kann nun einmal nicht anschwellen. Die Klaviere von Nannette Streicher hatten besonders viel Volumen im Ton – und diese Klangfülle hatte Folgen für Beethovens Werk. Bis dahin hatte man die Basslinie immer mit einem Melodieinstrument verstärkt. Ein Tasteninstrument allein hätte zu dünn geklungen. Für die Cellisten bedeutete das, dass sie im Zusammenspiel mit Cembalo oder Klavier immer nur das verdoppelten, was die Pianisten ohnehin spielten. Diese Generalbass-Rolle war keine besonders reizvolle Aufgabe in der Kammermusik. Jetzt aber, wo die Basslinie vom Flügel allein gespielt werden konnte, war das Cello frei. Plötzlich konnten beide singen: nicht nur die Pianisten, sondern auch die Cellisten.

Befreiung des Violoncellos

Der erste, der das erkannte, war Ludwig van Beethoven. Schließlich war er an den rasanten Fortschritten im Instrumentenbau brennend interessiert. Und zog sofort weitgehende Konsequenzen: In seinen Cellosonaten op. 5 übernimmt das Cello auf weite Strecken die Melodie im Tenor- und Altregister – anstatt bloß die Basslinie zu verdoppeln. Damit war eine neue Gattung geboren.

Kurz und bündig

Dieses Album ist ein Hörgenuss, weil …
… es Museumsstücke zum Leben erweckt: So machen historische Instrumente Freude!

Dieses Album hat gefehlt, weil …
… es uns unmittelbar in die Entstehungszeit versetzt, als Beethovens Cellosonaten noch experimentelle Musik waren.

Dieses Album hört man am besten …
… an langen Herbst- und Winterabenden, um Energie und Inspiration zu tanken.

Gewagte und experimentelle Kunst

Wie sehr Beethovens Cellosonaten die Einsatzmöglichkeiten des Instruments revolutioniert haben, kann man nun auf einer wunderbaren Doppel-CD nachvollziehen. Der Cellist Peter Hörr und die Pianistin Liese Klahn haben alle fünf Sonaten auf historischen Instrumenten eingespielt. Drei verschiedene Flügel aus der Sammlung der Klassikstiftung Weimar kommen zum Einsatz – teils von Nannette Streicher gebaut, teils von ihr beeinflusst. Und sie versetzen uns unmittelbar in eine Zeit, in der Beethovens Musik noch kein kanonisiertes, in Wohlklang einbalsamiertes Besitzgut war, sondern eine in jeder Hinsicht gewagte und experimentelle Kunst.

Ansteckende Spielfreude auch großes Formbewusstsein

Großartig sind die Frische und Impulsivität, mit der Peter Hörr und Liese Klahn musizieren. Ja, Beethoven ist heftig, er strapaziert die Instrumente, geht bis an die Grenzen des Möglichen, fast bis zum Geräuschhaften – und diese physische Intensität des Instrumentalklangs überträgt sich beim Hören mit körperlicher Intensität. Dabei beweisen die beiden Musiker bei aller ansteckenden Spielfreude auch großes Formbewusstsein. Am meisten erfreut, wie sehr sie Beethovens Wunsch befolgen, auch in der Instrumentalmusik zu singen: Jede Phrase atmet, spricht, hat ein Ziel. So machen historische Instrumente Spaß: Aus Museumsstücken werden lebendige Zeugen einer Zeit, in der die sogenannte klassische Musik noch Avantgarde war.

Peter Hörr und Liese Klahn spielen Beethoven

Ludwig van Beethoven:
Sonaten für Violoncello Nr. 1 – 5

Peter Hörr (Violoncello)
Liese Klahn (Klavier)

Label: ars vobiscum

Sendung: "Piazza" am 23. November 2019, 08:05 Uhr auf BR-KLASSIK

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