BR-KLASSIK

Inhalt

Album der Woche – Beethovens Neunte mit Pablo Heras-Casado Ein Meilenstein im Beethoven-Jahr

Die Neunte Symphonie von Beethoven ist nicht irgendeine Symphonie, sondern die Symphonie schlechthin, eine Ikone der abendländischen Musikgeschichte. Das weltumspannende Verbrüderungs-Pathos der "Ode an die Freude" versetzt auch nach zweihundert Jahren die Massen zuverlässig in kollektive Euphorie. Doch es gibt auch andere Stimmen. Beim Finale mag nicht jede und jeder in den allgemeinen Jubel und Freudentaumel einstimmen. Zu diesen Zauderern gehört auch Oswald Beaujean, den die Neuaufnahme unter Pablo Heras-Casado zum ersten Mal so richtig mit dem Freuden-Finale versöhnt hat.

CD-Cover: Beethovens Neunte mit Pablo Heras-Casado | Bildquelle: harmonia mundi

Bildquelle: harmonia mundi

Der CD-Tipp zum Anhören

Beethovens Neunte ist nicht mein Stück. Ja, die ersten drei Sätze sind großartig, der erste ist einer der spannendsten in Beethovens Symphonien überhaupt, radikal, kompromisslos, wegweisend. Wäre da nicht das Finale mit seiner viel und überschwänglich gepriesenen Ode an die Freude, die Neunte wäre unbedingt mein Stück. Ich weiß, als guter Deutscher und guter Europäer muss man dieses Finale lieben. Schöner, auf jeden Fall mit größerem Pathos, darin ist die Welt sich einig, wurde das hohe Lied der Brüderlichkeit nie gesungen. Ach ja? Mich hat schon immer weit eher überzeugt, was Claude Debussy schon zu Beginn des 20. Jahrhundert über die Neunte schrieb: Die Welt habe aus ihr "einen Popanz zur öffentlichen Verehrung" gemacht.

Kurz und bündig

Dieses Album wird lieben, wer ...
... seine Schwierigkeiten mit Beethovens Neunter hat und bislang davon überzeugt war, das Finale sei eigentlich missglückt.

Dieses Album lohnt sich, weil ...
... Beethovens Neunte hier wirklich neu entdeckt wird, sogar die Ode an die Freude ohne Pathos auskommt und trotzdem mitreißt.

Dieses Album hat gefehlt, weil ...
... es klarstellt, dass das Solistenquartett im Finale ganz einfach schön singen kann und nicht brüllen muss.

Klarheit, Prägnanz und Durchlässigkeit

Es hat noch keine Aufnahme der Neunten gegeben, die ich nicht mit spitzen Fingern auf den Plattenteller gelegt oder in den CD-Player geschoben hätte. Ein Grund-Misstrauen war immer da, bevor der erste Ton erklang, auch, als ich jetzt zur Neuaufnahme des Freiburger Barockorchesters unter Pablo Heras-Casado gegriffen habe. Dieses Misstrauen ist verflogen, nicht durch ein Wunder, sondern ganz einfach mit dieser fantastischen Einspielung. Den ersten drei Sätzen verleihen Heras-Casado und die Freiburger eine so unerhörte Klarheit, rhythmische Prägnanz und klangliche Durchlässigkeit, dass man das viel aufgeführte und zu oft gehörte Werk neu zu entdecken glaubt.

Ohne Pathos und ohne Anstrengung

Und selbst das Finale überzeugt in dieser neuen Aufnahme. Ja, leicht widerwillig muss ich feststellen, dass es mich mitreißt. Der Dirigent Peter Gülke, ein beängstigend kluger Dirigent und Musikpublizist, meinte einmal, "ohne ein Moment äußerster Anstrengung (sei) das Pathos des Freuden-Finales nicht denkbar und erreichbar". Bei aller tiefen Verehrung muss ich Gülke hier einmal widersprechen. Das Finale funktioniert wunderbar ohne Pathos und auch ohne Anstrengung – wenn es so klingt wie bei Heras-Casado, der Zürcher Sing-Akademie und dem Freiburger Barockorchester.

Entschlackt unpathetische Deutung

Es funktioniert nicht zuletzt aufgrund des exzellenten Solistenquartetts aus vier fabelhaften Liedsängern. Wie wohltuend, dass Christiane Karg, Sophie Harmsen, Werner Güra und Florian Bösch allesamt einmal nicht brüllen, sondern – ganz im Sinne Schillers – Rücksicht aufeinander nehmen, herrlich leicht und ohne stimmliches Forcieren einfach nur schön singen. Der Botschaft des Freuden-Finales tut diese entschlackt unpathetische Deutung übrigens keinen Abbruch, ganz im Gegenteil. Heras-Casado und die Seinen führen im wahrsten Sinn einen Freudentanz auf. Die mitgereichte Chorfantasie droht da fast ein wenig unterzugehen, wenngleich Kristian Bezuidenhout sie hinreißend musiziert. Das noch recht junge Beethoven-Jahr hat für mich jedenfalls einen echten Meilenstein hervorgebracht.

Infos zur CD

Ludwig van Beethoven:
Symphonie Nr.9 d-Moll op.125
Chorfantasie c-Moll op.80

Christiane Karg (Sopran)
Sophie Harmsen (Mezzosopran)
Werner Güra (Tenor)
Florian Bösch (Bassbariton)
Christian Bezuidenhout (Fortepiano)
Zürcher Sing-Akademie
Freiburger Barockorchester
Leitung: Pablo Heras-Casado

Label: harmonia mundi

Sendung: "Piazza" am 04. Juli 2020, 08:05 Uhr auf BR-KLASSIK

    AV-Player